Aus ganz Deutschland und darüber hinaus kamen Journalisten nach Winnenden, um über den Amoklauf zu berichten. Manche seien ziemlich rücksichtslos vorgegangen, kritisierten Betroffene. Foto: Gottfried Stoppel

In den Wochen nach der Tat, die sich jetzt zum zehnten Mal jährt, haben Betroffene heftig die Art mancher Berichterstattung und das Verhalten einiger Reporter kritisiert.

Winnenden - Wer nicht dort war und das miterlebt hat, macht sich keine Vorstellung.“ Ein Pressefotograf, der einen Tag nach dem Amoklauf in Winnenden vor der Albertville-Realschule im Einsatz war, ist auch noch zehn Jahre danach vom Verhalten einiger Kollegen entsetzt. Reporter, Fotografen und Kamerateams machten damals regelrecht Jagd auf Menschen, die als Zeichen der Trauer und Verbundenheit mit den Toten und deren Angehörigen Blumen oder Kerzen vor dem Schulgebäude ablegen wollten. Unversehens sahen sie sich mit Objektiven von Foto- oder Filmkameras aus nächster Nähe konfrontiert. Passanten wurden angesprochen, ob sie bereit seien, sich möglichst effektvoll ins Bild setzen zu lassen. Treffpunkte von Jugendlichen wurden belagert, bis sich diese entnervt andernorts trafen.

Die Familien und Freunde der Ermordeten erlebten bereits am Tag der Tat, wie ihre Wohnungen oder Häuser belagert wurden. „Es wurden Grenzen überschritten, und wir wussten nicht, wie wir darauf reagieren sollten“, sagt Gisela Mayer, die Mutter einer ermordeten Lehrerin. Die schwer traumatisierten Angehörigen, die außerdem im Umgang mit Medien und der Öffentlichkeit völlig unerfahren waren, sahen sich plötzlich aufgefordert, in ihrer Ausnahmesituation Antworten zu geben auf Fragen, die sie noch mehr aufwühlten. „Es waren Journalisten bei mir zu Hause, bevor ich selbst vom Tatort zurückkam. Man hat mit Kameras durch unsere Wohnzimmerfenster gefilmt. Es ist vieles passiert, das nicht hätte passieren dürfen.“

Beim Presserat gehen 79 Beschwerden ein

Die Kritik an diesem Verhalten wird in den Tagen und Wochen nach dem 11. März zu einem bundesweiten Thema. Beim Deutschen Presserat gehen 79 Beschwerden über die Berichterstattung in verschiedenen Medien ein. Er spricht zwei öffentliche und eine nicht öffentliche Rüge aus. „Da gab es ja die große Medienschelte. Damals muss ich sagen: Nicht zu Unrecht. Aber aus viel Schlechtem kann auch viel Gutes entstehen“, meint Gisela Mayer.

Die Ethik-Lehrerin engagiert sich in der Stiftung gegen Gewalt an Schulen, die nach dem Amoklauf gegründet wurde. Sie hat ihre persönlichen Erfahrungen in Seminare für Journalisten und ein Buchprojekt einfließen lassen, das sie gemeinsam mit der Deutschen Journalistenschule und der Robert-Bosch-Stiftung realisiert hat. „Begegnung mit dem Leid“, heißt der 2017 erschienene Band. Der Untertitel: „Sensibel recherchieren und berichten“.

Ein Schulfotograf kam vor Gericht

Davon ist im Jahr 2009 in einigen Fällen nichts zu spüren gewesen. So wurde etwa das Porträt eines Jugendlichen aus der Nähe von Hamburg, der denselben Namen trägt wie der Winnender Täter, aus dem Internet heruntergeladen und veröffentlicht. Ein Schulfotograf kam vor Gericht, weil er Fotos der Opfer an Medien verkauft hatte. Ein Schüler, der in der Albertville-Realschule Augenzeuge der Morde an Mitschülerinnen geworden war, wurde in einer Fernseh-Talkshow wenig sensibel gefragt, ob er beim Täter den für Amokläufer offenbar typischen emotionslosen Gesichtsausdruck gesehen habe.

Mittlerweile habe sich einiges verändert, stellt Gisela Mayer fest. Journalisten seien ihr als Besucher ihrer Seminare sehr positiv aufgefallen. „Leute, die interessiert waren und wirklich schlicht wissen wollten, wie kann man in dieser unerfreulichen Situation eigentlich richtig handeln?“ Sie sei sicher, dass diese Journalisten keine solchen Fehler mehr machen würden.

Es bleibt ein Dilemma

Auch für die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten war die Berichterstattung damals eine Gratwanderung. Wir haben sehr darauf geachtet, seriös und mit dem gebotenen Feingefühl zu recherchieren. Doch einem Dilemma bei der Berichterstattung über Amokläufe ist schwer zu entkommen: Ein wesentlicher Antrieb der narzisstischen Täter ist nach der Meinung von Experten die zu erwartende Berichterstattung über sie –selbst wenn sie diese nicht mehr erleben. „Sie wünschen sich, dass Journalisten ihre Person in den Mittelpunkt stellen“, sagt die Kriminalistik-Professorin Britta Bannenberg, die führende Amokforscherin hierzulande. Vor allem auf Fotos der Täter sollte daher verzichtet werden, um Nachahmer nicht zu animieren, empfiehlt sie. In Chat-Foren treten „Fans“ von Amokläufern sogar unter deren Namen auf.