Das Projekt Stuttgart ohne Fixierung gibt es seit sechs Jahren und es ist ein Erfolgsmodell. Foto: dpa

Zu viele alte Menschen würden im Pflegeheim fixiert, das sei unwürdig und nicht akzeptabel, klagten vor einigen Jahren die Stuttgarter Amtsgerichte. Dank eines neuen Verfahrens und der Prüfung von Alternativen gibt es nun gute Nachrichten.

Stuttgart - Alte Menschen im Heim, deren Bett mit Gittern gesichert ist, die womöglich mit einem Bauchgurt festgemacht sind oder die an einem sogenannten Therapietisch festsitzen: das sind Bilder, die niemand gerne sieht. „Das fühlt sich nicht gut an, das ist ethisch schwierig, das tut weh“, sagte Michelangelo Ferrentino vom Trägerforum Altenhilfe am Montag im Sozialausschuss des Gemeinderats. Dass das Thema dort zur Sprache kam, hatte aber eher einen erfreulichen Grund. Seit Beginn der Umsetzung des Projekts Stuttgart ohne Fixierung (SoFi) im Jahr 2013 ist die Zahl solcher Fälle in hiesigen Pflegeheimen von damals 329 auf nur noch 198 im Vorjahr zurückgegangen. Das ist ein Minus von 40 Prozent.

Zunächst ging ein Aufschrei durch die Pflegeheime, als die zwei Stuttgarter Amtsgerichte damals mit der Forderung an die Öffentlichkeit gingen, die Zahl der Fixierungen müsse drastisch reduziert werden. Es war davon die Rede, dass im Jahr davor rund 500 Senioren in Heimen in irgendeiner Form gefesselt worden waren. Dabei hatte es sich in aller Regel um alte Menschen gehandelt, die an Demenz leiden und die man mit ärztlichem Attest etwa aus Sicherheitsgründen vor Verletzungen durch einen Sturz aus dem Bett schützen wollte. Genehmigt werden müssen diese von einem Amtsrichter. Die forderten in Stuttgart „einen neuen Geist in der Pflege“.

Pflegeheime fühlten sich angegriffen

Die Pflegeheime fühlten sich angegriffen und warfen den Amtsrichtern ihrerseits vor, diese kämen ihrer Prüfungspflicht nicht nach. In der Folge aber setzten sich Amtsgerichte, Pflegeheimträger, der Medizinische Dienst der Kassen und die Betreuungsbehörde der Stadt zusammen und entwickelten zur Besserung der Verhältnisse eben jenes SoFi-Projekt. Das zentrale Element des Verfahrens: Wenn ein Antrag auf Fixierung eines dementen, vielleicht sehr unruhigen alten Menschen eingeht, wird ein neutraler Verfahrenspfleger eingesetzt, etwa ein Sozialarbeiter oder eine gelernte Pflegekraft. Der schaut sich die Lage vor Ort im Heim an, fragt, ob die Maßnahme notwendig ist oder ob auch Alternativen möglich wären. Etwa dass man erst den Versuch macht, das selbstgefährdende Verhalten des alten Menschen durch ein Niederflurbett, eine Sturzmatte oder eine Sensormatte zu entschärfen. „Wir gehen heute weniger schematisch und mehr am Einzelfall orientiert vor“, sagt Bernd Odörfer, der Direktor des Amtsgerichts Bad Cannstatt. „Das ist ein Erfolgsmodell“, findet auch Klaus Göltz, der Leiter der städtischen Betreuungsbehörde. Klar aber sei auch, sagt Bernd Odörfer: „Das klappt nicht immer.“ Wenn ein Patient so unruhig sei, dass er 20-mal pro Nacht aus dem Bett falle, dann sei das weder dem Betroffenen selbst noch der Einrichtung zumutbar.

60 bis 70 Prozent der Heimbewohner leiden an Demenz

Dass auch künftig in Stuttgarter Heimen Fixierungen immer wieder vorkommen werden, legen einige Zahlen nahe. Nach der aktuellsten Auswertung des Statistischen Landesamtes waren in Stuttgart im Jahr 2015 insgesamt 14 893 Menschen pflegebedürftig, 4948 von diesen wurden stationär betreut. Derzeit gibt es Stuttgart aber schon 5398 stationäre Pflegeplätze, auch der im Verhältnis stärker wachsende ambulante Bereich dürfte weiter zugenommen haben. Wichtig ist dabei der Anteil der demenziell Erkrankten in den Heimen. Den könne man zwar nicht genau beziffern, sagt Alexander Gunsilius, Sozialplaner bei der Stadt. Man gehe aber davon aus, dass etwa 60 bis 70 Prozent der Pflegeheimbewohner mehr oder weniger stark an Demenz leiden.

Wobei auch die ambulante Pflege beim Thema Fixierung nicht aus den Augen verloren werden sollte, machten einige Ratsmitglieder im Sozialausschuss deutlich. „Das ist das allergrößte Dunkelfeld“, ist Marita Gröger von der SPD überzeugt. „Die Not der pflegenden Angehörigen ist oft sehr groß.“