Wissenschaftler arbeiten bei der Installation eines Seismiksensors im Gletschervorfeld des Matterhorns im Juli 2019. Sie sammeln hier Daten über den Zustand der Felsen und des Permafrosts. Foto: PermaSense Projekt/dps/dpa

Das Matterhorn ist einer der berühmtesten Berge der Alpen. Doch der Klimawandel macht die Berge in den Alpen zu Dauerpatienten. Wanderer müssen sich auf neue Gefahren einstellen.

Zermatt - Mittwochabend gegen 23 Uhr, östliches Ende des Vierwaldstätter-Sees zwischen den Dörfern Brunnen und Flüelen. Wie aus heiterem Himmel gerät ein gewaltiger Hang ins Rutschen. Mehrere Tausend Kubikmeter Fels stürzen mit ohrenbetäubenden Getöse gen Tal und blockieren die Axenstraße.

Vielerorts in den Alpen lockert sich mit dem Klimawandel Gestein, weil die gefrorenen Felsschichten antauen oder weil eindringendes Wasser Druck in Spalten erzeugt, die früher ganzjährig von Schnee und Eis bedeckt und durch den Permafrost zusammengehalten wurden.

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Bergrutsche häufen sich

Die Menschen sind alarmiert, denn es ist nicht der einzige Vorfall. Im Juli stürzten ein Bergführer und sein Gast am Matterhorn aus 4300 Metern in den Tod, weil ein Stück Fels ausbricht.

Beim Wandern am Gantrisch im Berner Oberland erschlägt ein herabstürzender Stein in diesem Sommer eine Frau. Im August bricht oberhalb von Brienz in Graubünden ein 100 Tonnen schwerer Felsbrocken ab und stürzt auf ein Feld neben einer Schule.

Auf italienischer Seite am Montblanc bewegt sich ein Gletscher schneller in Richtung Tal. Der Bürgermeister lässt Straßen sperren.

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„Gefahrlos kann man nie in die Alpen gehen“

Thomas Bucher vom Deutschen Alpenverein weiß nur zu gut um diese Gefahren. Doch gefahrlos, sagt der DAV-Sprecher, könne man nie in die Alpen gehen. Ein Restrisiko gebe es immer. „Das war vor 100 Jahren so – und das ist heute so. Allerdings ist das Risikomanagement heute besser als früher. Unsere DAV-Bergunfall-Statistik zeigt, dass Bergunfälle zwar zahlenmäßig zugenommen haben – im Verhältnis zu den Aktiven –, aber ist das individuelle Risiko massiv gesunken.

Dass Matterhorn zerbröselt und seine weltbekannte zipfelmützenartige Spitze demnächst verliert, ist nicht zu erwarten. Dass uralte Bergsteigerrouten zu gefährlich werden, dagegen schon. Der Klimawandel hinterlässt Spuren. „Patient Matterhorn“, titelt die „Schweizer Illustrierte“.

„Es gibt zunehmend größere Felsstürze“

Jan Beutel, Bergführer und Forscher an der Schweizer Elite-Universität ETH, hat vor elf Jahren am Matterhorn Sensoren installiert. „Da, wo wir früher unseren Rastplatz hatten, sollte man sich heute nicht mehr länger aufhalten.“ Wegen Steinschlaggefahr. „Alles, was größer ist als ein halber Apfel, ist potenziell tödlich.“ Felsveränderungen habe es zwar schon immer gegeben. Aber: „Es gibt zunehmend größere Felsstürze“, betont Beutel.

Die ETH-Forscher untersuchen den Einfluss des Klimawandels auf die Stabilität steiler Felswände. Sie haben auf 3500 Metern Höhe an 29 Stellen Geräte installiert, die seit 2008 rund um die Uhr Fotos machen, Spalten und Schwingungen messen und akustische Signale registrieren. Die Grundlagenforschung soll Muster für Vorhersagen von Felsstürzen liefern.

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„Gelände, das früher problemlos zu begehen war, ist heute anspruchsvoller“

Auch für DAV-Sprecher Bucher ist es ein Fakt, dass sich die sich die Gefahren mit dem Klimawandel und dem Auftauen des Permafrostes verändern und an manchen Stellen größer werden. „Damit müssen Bergsteiger lernen umzugehen.“

Zwar sei es nicht so, dass Wandern und Klettern in den Alpen unmöglich würden, aber alte Wege seien mitunter gefährlicher geworden. Wanderwege würden im Extremfall unpassierbar. „Meistens werden aber Umwege eingerichtet.“

Auch am Matterhorn verliert das durch den Permafrost bisher zusammengehaltene Gestein und Sediment seine Stabilität. „Wir sehen beim Permafrost einen deutlichen Trend zur Erwärmung, der sich insbesondere seit 2010 zeigt“, erläutert Jeannette Nötzli vom WSL-Institut, Expertin für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos.

Und: „Wir begegnen wachsenden Naturgefahren“, ergänzt Rolf Sägesser vom Schweizer Alpenclub. „Gelände, das früher problemlos zu begehen war, ist heute anspruchsvoller.“

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Bergsteiger müssen saisonal anders planen

Das bestätigt auch Thomas Bucher: Die Touristen müssten um die neuen Gefahren wissen und gewappnet sein. „Offene Augen zu haben, zu wissen, was am Berg los ist, ist die beste Lebensversicherung.“

Auch müsse man saisonal anders planen. Früher sei es üblich gewesen, Eiswände auch in den Sommermonaten zu besteigen. „Heute ist das kaum noch möglich, weil nur noch Steinschlag runterkommt. Eiswände macht man deshalb eher im April.“

Auch müsse man saisonal anders planen. Früher hätte man Eiswände in den Sommermonaten besteigen oder am Mont Blanc klettern können. „Das ist heute ein wilde Sache.“ Eiswände besteige man deshalb eher im April.

Oder im August am Montblanc-Massiv bergsteigen zu gehen, ist eine wilde Sache, weil sich dort Steinschlag und Bergstürze häufen. Die Saison verlagert sich nach vorne.

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Prekäre Lage am Montblanc

Auf der italienischen Seite des Montblancs, der an der Grenze zu Frankreich steht, ist gerade Alarmstimmung. Denn dort bewegt sich der spektakuläre Planpincieux-Gletscher infolge der Erwärmung schneller in Richtung Tal. Der Bürgermeister des beliebten Skiorts Courmayeur ließ aus Sorge vor einem Abbruch zwei Zugangsstraßen im Val Ferret sperren. Ein Radar wurde am Gletscher angebracht, um jeden Tag zu verfolgen, wie sich die Eismassen bewegen.

Könnten nun tonnenweise Eis herabrutschen und Bewohner und Touristen unter sich begraben? Nein. „Für das Val Ferret gibt es kein Risiko, selbst wenn 250 000 Kubikmeter herunterrutschen“, sagt der Klimatologe Massimiliano Fazzini von der Universität in Ferrara. Er warnt vor überzogenen Warnungen in dem speziellen Fall. „Einwohner und Touristen sind nicht in Gefahr – selbst wenn Touristen paradoxerweise von der jetzigen Situation angezogen werden.“ Wenn der Gletscher kollabiere, dann sei aber auch die Touristenattraktion dahin.

„Der Montblanc stürzt nicht ein“

Courmayeurs Bürgermeister Stefano Miserocchi betonte, es sei wichtig, „angesichts des Klimawandels mehr vorzubeugen“. Gleichzeitig versucht er vor allem Angst vor einem Gletscher-Kollaps zu zerstreuen. Auf der Webseite der Gemeinde ist daher nun groß zu lesen: „Courmayeur ist nicht in Gefahr. Der Montblanc stürzt nicht ein.“