Kinderarzt Thomas Jansen schaut bei der Untersuchung in den Hals. Foto: Lg/Max Kovalenko

Die Zeiten, in denen man sich einen Kinderarzt nach Empfehlung aussuchen konnte, sind vorbei. Die Praxen sind voll. Thomas Jansen behandelt nur Patienten aus seinem Einzugsgebiet – egal, ob privat versichert oder nicht. Einblick in den eng getakteten Alltag in einer Stuttgarter Kinderarztpraxis.

Stuttgart - Mit Schwung öffnet Thomas Jansen kurz nach 8 Uhr die Tür von Zimmer 2 – das wird der Stuttgarter Kinderarzt, der in Neugereut seine Praxis hat, an diesem Tag noch oft tun. In kurzen Abständen wird er sich zwischen drei Behandlungszimmern, dem Labor und dem Empfang hin und her bewegen – und erst um 11.56 Uhr das erste Mal dazu kommen, einen Schluck zu trinken. Bis 13.30 Uhr wird das so gehen, ohne Ruhepause. Die Trekkingsandalen, die Jansen an den Füßen trägt, sind notwendig.

Aber der Stress beginnt etwas später, wenn die Akutfälle kommen, die keinen lang angesetzten Termin hatten. In den ersten beiden Stunden sind die sogenannten U-Untersuchungen dran, bei denen die Kinderärzte den Entwicklungsstand ihrer Patienten überprüfen. Für die erste Mutter dieses Praxistags ist das nicht neu, ihre einjährige Tochter ist nicht ihr erstes Kind. „Ist Mama zufrieden?“, fragt der Kinderarzt die Frau. Sie erzählt, wie flink die Kleine geworden sei. Und das zeigt diese bei ihrer U-6-Untersuchung. Sie greift nach dem Ball, der ihr zugerollt wird, gibt ihn auch nach Aufforderung ab. „Wie aus dem Bilderbuch“, Jansen ist zufrieden. Sie sprechen über Sprachvermögen, Essverhalten, die trockene Nase der Kleinen, Stuhlgang und Bewegungsdrang. Er hört das Mädchen ab, untersucht Bauch, Hals, Ohren. „Man sieht, dass sie noch erkältet ist“, sagt Jansen und rät zu Kochsalzlösung für die Nase. „Wie machen Sie das mit dem Zähneputzen?“ Da druckst die Mutter etwas herum. Sie soll dranbleiben!

Die Grippewelle hat die Praxis fest im Griff

8.35 Uhr, gute Nachricht vom Praxisempfang. Eine Kollegin ist zwar krank, doch Sabine Gall, die Springerkraft, konnte kommen. Sie sind jetzt zu zweit. Sabine Gall hat das Terminbuch vor sich. Lücken sind für Laien nicht auszumachen, doch einige wenige scheint es zu geben. „Ich habe erst um 17.40 Uhr etwas frei“, sagt Sabine Gall ins Telefon. „Hält es die Nichtsprechende so lange aus?“ Offenbar tut sie es, die Mitarbeiterin notiert einen Namen. Noch hat die Grippewelle die Praxis fest im Griff, die zurzeit auch Vertretung macht für einen Kinderarzt, der im Urlaub ist.

10.05 Uhr: Zwei U-9-Untersuchungen liegen hinter Thomas Jansen, beide waren erfreulich. Ab jetzt wird es knackig. Im Wartezimmer weint ein Kind, am Empfang steht eine Mutter, deren Kind Nasenbluten hatte. Sabine Gall sagt am Telefon: „Viel trinken, ruhig etwas Süßes, Magen-Darm geht gerade rum.“ Alle Behandlungsräume sind besetzt, auch im Labor wartet ein Säugling, der die Nacht über durchgeschrien hat, mit seinen verzweifelten Eltern. Jansen betritt Zimmer 3: Eine Mutter mit Zwillingen ist da zur Impfung ihrer 18 Monate alten Buben.

Impfung, grippaler Infekt, Impfung, Streptokokken-Test, Blutabnahme, es geht Schlag auf Schlag. Dauert es fünf Minuten bis zu einem Testergebnis, ist Jansen so lange beim nächsten Patienten. Und nach jedem „Fall“ sitzt er am Computer für die Dokumentation. Am Empfang steht das Telefon nicht still. „Es ist wie im Callcenter hier“, meint Sabine Schneider, während sie die nächsten Impfungen vorbereitet. Die Medizinische Fachangestellte ist seit 20 Jahren in der Praxis. Bis vor zehn Jahren sei es ein anderes Arbeiten gewesen, meint sie. Der Druck habe enorm zugenommen. Sie führt das nicht nur auf Babyboom und zusätzliche medizinische Anforderungen zurück: Die Elterngeneration heute sei unsicherer, suche schneller den Kinderarzt auf.

Das Telefon steht nicht still

Doch die Termine sind endlich. Allein bis 11 Uhr wird Sabine Gall sechs Mütter mit kranken Kindern auf den nächsten Tag vertrösten, weil kein Termin mehr frei ist. Und zweien wird sie klar machen, dass ihr Anruf ganz vergebens war. Wer nicht aus dem Einzugsgebiet kommt, wird nicht versorgt, egal ob privat versichert oder gesetzlich, egal ob mit neugeborenem Kind oder nicht. Vor ein paar Jahren sei das noch anders gewesen, sagt Sabine Schneider, da habe man sich noch nach Empfehlung den Kinderarzt aussuchen können. Doch dann hat der Babyboom eingesetzt. So viele Kinder wie 2016 und 2017 sind in Stuttgart seit den 1970er Jahren nicht mehr geboren worden.

Dann kommt auch noch ein Notfall rein

Gerade hat Thomas Jansen einer syrischen Mutter, die kaum Deutsch spricht, klar gemacht, dass ihre Tochter Streptokokken hat. Nun sitzt er einem Ehepaar gegenüber, das eine Zweitmeinung will – beziehungsweise eine Drittmeinung. Zwei Ärzte haben schon gesagt, der vergrößerte Lymphknoten im Hals der Tochter sei harmlos. „Ich habe Angst“, sagt die Mutter. Jansen untersucht die Zweijährige, versucht, die Eltern zu beruhigen. „Dass es Probleme gibt, ist brutal selten.“ Sie könnten zwar noch einen Ultraschall machen lassen, „das ist eine Frage, wie viele Albträume sie haben“ und ob sie sich auf „Gespenstersuche“ machen wollten – dass er davon nichts hält, sagt er nicht direkt.

10.56 Uhr: ein Schreibaby mit Blähbauch in Zimmer 2. 11.06 Uhr: ein Vertretungspatient in Zimmer 1. 11.15 Uhr: Behandlungszimmer 3. 11.21 Uhr: Zimmer 1. 11.24 Uhr, 11.29 Uhr, 11.34 Uhr. Jetzt macht der Arzt Akkordarbeit, dennoch behält er bei den Patienten seine ruhige Art. Dann kommt noch ein Notfall rein: Ein jugendlicher Bäckerei-Praktikant hat sich Lauge ins Auge gekippt. Seine Krankenkassenkarte hat er nicht dabei. Jansen geht schnellen Schrittes ins Labor – wenig später ist der Jugendliche schon auf dem Weg zum Augenarzt. Um 12 Uhr ist die Sprechstunde offiziell eigentlich vorbei, doch an diesem Tag wird es 13.30 Uhr.

Ein ganz normaler Tag

Thomas Jansen setzt sich auf sein Fahrrad, fährt nach Hause zum Mittagessen. In einer Stunde ist er wieder da. Am Nachmittag kommen viele Kinder, deren Entwicklung Sorgen macht. Und natürlich weitere Erkältungs- und Grippefälle. Um 19.30 Uhr verlässt er die Praxis. „Wir haben heute für 70 Patienten irgendetwas gemacht, davon habe ich 53 Patienten untersucht“, schreibt er kurz nach Mitternacht. „Ein ganz normaler Tag, zum Glück kamen nicht viele Problemfälle unverhofft dazwischen“, wie er sagt. Montags und freitags sei der Anteil der Akutfälle höher. „Da sind es auch mal 80 bis 90 Patienten.“ Die Fallzahl seiner Praxis entspreche fast genau dem Durchschnitt der Kinder- und Jugendarztpraxen in Baden-Württemberg. „Kranke Kinder können wir nicht in der nächsten Woche anschauen, das muss zeitnah, oft am selben Tag passieren, auch wenn es uns persönlich längst zu viel ist“, sagt Jansen.