Bravouröse Ensembleleistung: Cranko-Schüler feiern gut gelaunt die „Spirits of Nature“. Foto: Stuttgarter Ballett

Tänzer des Balletts und der Cranko-Schule bescheren dem Publikum bereits zum 35. Mal im ausverkauften Opernhaus eine Matinee – der Erlös kommt der Aktion Weihnachten zugute.

Stuttgart - Sonnengelbe Röcke umspielen die zarten Beine der Tänzerinnen. Vor leuchtend blauem Hintergrund und mit beschwingter Musik verstärken die Tänzerinnen die frühlingshaften Gefühle der Zuschauer, die bei Sonnenschein und ungewöhnlich milden Temperaturen am Sonntagmittag in die ausverkaufte Oper geströmt waren. Obwohl das Wetter kaum eine vorweihnachtliche Stimmung aufkommen lässt, beschenken die Tänzer des Stuttgarter Balletts und der John-Cranko-Schule am Nikolaus-Tag ihr Publikum reich mit ihren außergewöhnlichen und vielseitigen Darbietungen. Wenig besinnlich, aber umso herzlicher, ist dann auch der ohrenbetäubende Applaus, mit dem die Zuschauer den Tänzern ihre Dankbarkeit zeigen.

Für den guten Zweck

Diese 35. Ballett-Matinee ist „etwas ganz Besonderes in einer von schlechten Nachrichten geprägten Zeit“, begrüßt Jan Sellner, Lokalchef unserer Zeitung, die Zuschauer. Besonders, wegen des „großartigen Zusammenspiels von Spitzentänzern und Spitzennachwuchs“. Besonders aber auch, weil alle Mitwirkenden zugunsten der Aktion Weihnachten auf ihre Gagen verzichten. Dafür, dass sie Menschen beschenken, die nicht im Rampenlicht stehen, erhalten die Tänzer Blumengebinde in orange-roten Farben, die die Württembergischen Gärtner gestiftet haben. Herzliche Worte des Dankes richtet Sellner auch an den Intendanten des Stuttgarter Balletts, Reid Anderson, der in seine 20. Spielzeit in Stuttgart startet, an den Direktor der John-Cranko-Schule, Tadeusz Matacz, und den Geschäftsführenden Direktor der Staatstheater Stuttgart, Marc-Oliver Hendriks: „Die Aktion Weihnachten unserer Zeitung ist auch Dank dieser Matinee eine große karitative Gemeinschaftsleistung.“

Nachwuchs mit Höhenflügen

Schon die Kleinsten unter den Ballettschülern zeigen, dass sie auf die große Bühne gehören. Pure Lebensfreude und Leichtigkeit drücken die Tänzer der Klassen vier bis sechs der John-Cranko-Schule bei „Najade und der Fischer“ aus. Die Buben der Klasse drei zaubern mit ihren engen, blauen Anzügen und stachelig nach oben gegelten Haaren zunächst ein Lächeln in die Gesichter der Zuschauer. Dieses verwandelt sich aber schnell in Staunen, wenn sich die Tänzer für „Moon Marchin’“ zur Musik der Blue Man Group akrobatisch verbiegen, Räder schlagen und die Bewegungen in einem Ruderboot imitieren. Ganz reduziert tritt dagegen die Tänzerin Alice Pernão in weißem Kleid und barfuß auf. Zu Beginn bewegt sie auf dem Boden liegend ihre Beine wie eine tickende Uhr, doch dann zeigt sie sich im Tanz wie entfesselt. In „Italiana“ wechseln sich die Tänzerinnen und die Tänzer zunächst ab, bevor sie gemeinsam Sprünge liefern, die mit einem eleganten Kniefall der Männer enden. Die Herzen der Zuschauer erobern die jungen Tänzer der Klassen eins bis fünf dann mit dem energiegeladenen und humorvollen Finale „Spirits of Nature“. In grünen Kostümen winden sie sich wie Efeuranken, springen wie Frösche oder schwingen die Hände wie Schmetterlinge.

Zu zweit

Ganz prima zum wohltätigen Zweck dieser Gala passt, dass die Tänzer des Stuttgarter Balletts an diesem Morgen viel zu zweit tanzen dürfen. Alicia Amatriain und Constantine Allen, der für den erkrankten Friedemann Vogel eingesprungen ist, zeigen in „Legende“, wie einem an der Seite eines verlässlichen Partners Großes gelingt. Mit souveräner Leichtigkeit macht das Paar begreiflich, welche Dynamik John Cranko in die Kunst des Pas de deux brachte und was für halsbrecherische Hebungen damit möglich werden. Ganz innig schildert dagegen Fabio Adorisio die Verbundenheit zweier Menschen und findet im Einklang mit der Musik von Phil Glass intensive Bilder. Sein Duett „In2“ ist eigentlich ein Pas de trois: Immer wieder geben die Pianistin und ihr Instrument den Tänzern Miriam Kacerova und Roman Novitzky Halt. Gespickt mit Raffinessen ist der „Grand pas classique“: Und es ist ein großes Glück miterleben zu dürfen, wie Elisa Badenes mit Hilfe von Constantine Allen alles Schwierige einfach hinweglacht.

Tanz mit Überraschungen

Zum Nikolaus-Tag packten Ballett und Cranko-Schule reichlich Überraschungen auf die Tanzbühne. Kreativ zu sein gehört in Stuttgart von Beginn an dazu, zwei Uraufführungen, Rollendebüts und eine Stuttgarter Premiere machten die Benefiz-Gala zum echten Hingucker. Alessandro Giaquinto hat seinem Mitschüler das neue Solo „Sueno/Thrown Into A Dream“ gewidmet, das einen jungen Mann auf der Suche nach sich selbst zeigt: Unglaublich, wie der Tanz, den sich Timoor Afshar herbeiträumt, alle Unsicherheit und Ängste wegwischt. Zum Höhenflug hebt Pablo von Sternenfels erstmals in „Les Bourgeois“ ab, und öffnet Jacques Brels Chanson vom bürgerlichen Absturz schöne Abgründe. In die blickt auch Daniel Camargo in „Firebreather“: Katarzyna Kozielska zeigt ihren Kollegen als beeindruckendes Powerpaket, das selbst aus dem Straucheln ungeahnte Energie zieht – eine Hommage an die Tänzer, die immer wieder aufstehen. Louis Stiens beschenkt das Publikum wie schon im letzten Jahr: „Last Romance“ heißt sein Duett, und es rückt unter niedrigen Scheinwerfern Angelina Zuccarini und Robert Robinson ins beste Licht. Die Präzision ihrer Gesten sind von skulpturaler Geschliffenheit. Wie in einem asiatisch inspirierten Ritual verwickeln sich Hände, die weit fließenden Hosen, zwei Körper und erzählen in wechselnder Dynamik von Verletzlichkeit und neuer Stärke. Eine Energie, die ohne Verlust auf das begeisterte Publikum überspringt.