David Kamer im Gespräch mit einem verschuldeten Klienten Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Die große Benefizaktion unserer Zeitung startet wieder. Bis Weihnachten stellen wir täglich ein Schicksal oder soziale Initiativen vor. Heute rücken wir zwei Projekte für Menschen in den Mittelpunkt, die von Armut und Wohnungsnot betroffen sind.

Stuttgart - Weihnachten hat bei Familie Müller (Name geändert) einen langen Vorlauf. Michaela Müller spart das ganze Jahr über für die Bescherung ihrer drei Kinder. Außerdem gibt es etwas, was sonst nicht auf den Tisch kommt: Fleisch vom Supermarkt-Metzger. Dafür sammelt die Mutter das ganze Jahr über die Punkte für ihre Einkäufe. So kommt genug zusammen, um mithilfe der Punkte-Karte die Rouladen von der Fleischtheke für das Weihnachtsessen zu bezahlen.

Die Not hat Michaela M. erfinderisch gemacht. Seit 2011 lebt die 37-Jährige mit ihrer Familie in einer Fürsorgeunterkunft. Seit der Geburt des dritten Kindes teilen sie sich zu fünft 64 Quadratmeter. Ihr Partner ist Geringverdiener, sie bekommen aufstockende Leistungen. Mit einem Schufa-Eintrag ist es noch schwerer, in Stuttgart eine Wohnung zu finden – denn Michaela Müller ist seit vielen Jahren verschuldet. Doch die Stuttgarterin versucht, es ihren Kindern so schön wie möglich zu machen. Sie seien ihr Antrieb.

Fortbestand des Projekts ist gefährdet

Die 49. Aktion Weihnachten der Stuttgarter Nachrichten, die an diesem Freitag startet, rückt zum Auftakt Menschen in den Mittelpunkt, die von Wohnungsnot und Schulden betroffen sind. Bis Weihnachten stellen wir viele Einzelschicksale sowie Initiativen und Projekte aus Stuttgart und der Region vor, die sich für Benachteiligte einsetzen. Besonders überzeugt hat uns das niedrigschwellige Projekt „Beratung bei Geldproblemen und Schulden“ der Evangelischen Gesellschaft, von dem auch Michaela Müller profitiert. Weil die Finanzierung zum Jahresende ausläuft, will die Aktion Weihnachten den Fortbestand des Projekts sichern.

Das Besondere: Die Menschen werden in ihrem Stadtteil beraten. Die Sprechstunden finden im Kontaktbüro der Fürsorgeunterkünfte und im Begegnungszentrum Oase in Zuffenhausen statt. Der Hintergrund ist, dass viele Menschen, gerade Bewohner aus den Fürsorgeunterkünften, nicht von der Zentralen Schuldnerberatung erreicht würden, wie der Diakon und Sozialpädagoge David Kamer erklärt, der die Sprechstunden anbietet. Viele der älteren Bewohner aus den Fürsorgeunterkünften seien „gesundheitlich massiv eingeschränkt“, bestätigt auch die Heilpädagogin Waltraud Schillinger, die die Unterkünfte betreut. „Sie würden es auch körperlich gar nicht in die Zentrale Schuldnerberatung schaffen“, betont sie. Wie der 70-Jährige, den die Trennung von seiner Frau und eine Krebserkrankung aus der Bahn geworfen hatte. Jeder Gang fällt ihm schwer, sein Alltag auch. Einmal rief Schillinger die Feuerwehr, weil sein Briefkasten derart überquoll, dass sie fürchtete, er sei tot. Ihm tut es gut, mit seinen Geldproblemen nicht mehr alleine zu sein, er habe wieder Hoffnung, sagt er. Und wenn jetzt Post im Briefkasten liegt? „Dann schaue ich rein“, sagt der ehemalige Selbstständige, der vor dem Krebs keine Schulden kannte.

Die Grundbedürfnisse müssen gestillt sein

Auch Michaela Müller ist selbst ohne Not aufgewachsen. Nur habe sie von ihren Eltern nicht gelernt, mit Geld umzugehen. Mit 18 war sie auf sich gestellt und machte ihre ersten Schulden: Der Dispokredit war für eine Auszubildende zu hoch – wie auch die Ausgaben für Miete, Handy, Strom. Sie wechselte Anbieter, schloss neue Kredite ab, suchte Schlupflöcher, wurde schwanger. Der Schuldenberg wuchs. Er lastet auf ihr bis jetzt, obwohl sie heute sehr gut haushalten kann. Sie gibt sogar Nachbarn Tipps, wie man spart. Doch so lebenstüchtig sie ist, wenn es um die Organisation des Familienlebens geht – so unmöglich erscheint es ihr, in die Stadtmitte zur Schuldnerberatung zu fahren. Die 37-Jährige ist psychisch krank. Sie hat Ängste, auch vorm Bahnfahren.

Da hilft es, dass sie zu David Kamers Sprechstunde nur die Straße überqueren muss. Zusammen sind sie gerade dabei, Licht ins Dickicht der Rechnungen zu bringen. Denn Verbindlichkeiten können verjähren, und manchmal verberge sich hinter verschiedenen Rechnungen nur ein Betrag, berichtet er. Die Familie sei auf einem guten Weg, sagt Kamer. Seine Aufgabe sieht er auch in der psychischen Entlastung. „Es passiert Ihnen nichts“, diese Botschaft ist ihm wichtig. Dieser Familie könne man nichts mehr nehmen. „Die Grundbedürfnisse müssen gestillt sein“, sagt der Sozialpädagoge. Das sei vielen Klienten gar nicht klar.

Seit drei Jahren sind die Eltern wohnungslos

Mit wenig auskommen zu müssen und auf engstem Raum zu leben, das ist auch für die Menschen aus der Wohnungsnotfallhilfe triste Realität. Als Folge der Wohnungsnot kommen inzwischen auch wohnungslose Familien im betreuten Wohnen unter. „Dieses Klientel ist recht neu für uns“, berichtet der Fachdienstleiter der Offenen Hilfen der Wohnungsnotfallhilfe der Caritas, Harald Wohlmann. Angesichts der Enge in den Unterkünften und des oft bedrückenden Alltags mangele es diesen an positiven gemeinsamen Erlebnissen, so Wohlmann. Ein Ehepaar mit Kind, das wir für die Aktion Weihnachten besucht haben, lebt beispielsweise auf rund 35 Quadratmetern – die Eltern sind seit drei Jahren wohnungslos und froh über ihr kleines Zuhause auf Zeit. Sie wohnten zunächst in einer Sozialpension, dann in einer betreuten Wohnung im Leonhardsviertel, die von Mäusen befallen war und nun nicht mehr belegt wird. Seit März sind sie an der neuen Adresse – vorerst für ein Jahr.

Die Caritas, die Evangelischen Wohnheime und die Evangelische Gesellschaft haben nun einen Fonds aufgelegt, der „Familien mit kleinen Kindern in prekären Lebenssituationen“ positive Erlebnisse ermöglichen soll. Es gehe darum, die Sorgen idealerweise einmal zu vergessen und den Familienzusammenhalt zu stärken, erklärt Wohlmann. Die sozialpädagogische Begleitung würde sicherstellen, dass die Aktivitäten sinnvoll gestaltet werden, heißt es im Antrag. Solche Auszeiten würden den Familien guttun. Auch könnte man über den Fonds Kindergeburtstage abseits des beengten Alltags finanzieren. Die Aktion Weihnachten würde dem Fonds gerne Startkapital geben.