Immer schwieriger wird es für die Bürger einen Hausarzt zu finden. Foto: dpa

Nicht nur auf dem Land, auch in Ballungsgebieten wie in der Region Stuttgart fehlen die Mediziner. Patienten bleiben unterversorgt.

Esslingen - Der Albtraum für Michael R. begann mit einem Telefonanruf in der Nacht zum zweiten Weihnachtsfeiertag. „Ihre Mutter ist gestürzt, wir haben sie in ihrer Wohnung liegend aufgefunden“, sagten die Rettungskräfte. Sie entschieden, die Frau ins Klinikum Esslingen zu bringen. Angekündigt hatte sich das schon länger. Die 96-jährige Frau aus Esslingen ist krebskrank und gebrechlich, konnte sich aber mit Pflegedienstunterstützung noch selbst versorgen. „Nach vier Tagen haben sie meine Mutter aus dem Esslinger Krankenhaus rausgeschmissen ohne irgendeine Nachsorge“, sagt Michael R. Ein Krankenwagen hätte sie zurück in ihre Wohnung gebracht, aber dort lag sie nur noch im Bett. Sie brauchte dringend einen Arzt. Zu ihrer eigenen Hausärztin konnte sie nicht, die Ärztin war selbst schwer krank geworden und hatte die Betreuung ihrer Patientin aufgekündigt.

Die verzweifelten Angehörigen, versuchen einen Hausarzt zu finden

Jetzt versuchten die verzweifelten Angehörigen, einen Hausarzt zu finden, der sich um die schwerkranke Frau kümmerte. Es war der Freitag vor Silvester. Die Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gab ihnen lediglich eine Liste von Hausärzten. Acht bis zehn Ärzte haben Michael R. und seine Schwester angerufen, es gab nur Absagen. Sie versuchten es auch bei ihrer Krankenkasse. Von dort bekamen sie die Adressen von zwei Ärzten, die jedoch hätten ihre Praxen erst im Februar geöffnet. Die Familie kapitulierte und brachte ihre Mutter gegen ihren Willen ins Pflegeheim nach Kennenburg. Das Heim dort kooperiert mit Ärzten, und nach mehreren Tagen ohne Versorgung kümmerte sich erstmals wieder ein Mediziner um die Frau und verordnete Medikamente.

In Baden-Württemberg fehlen zur Zeit etwa 500 Hausärzte und in den nächsten Jahren noch einmal 500. Die Kassenärztliche Vereinigung kennt die Gründe für den Hausarztmangel: Zum einen werde der Arztberuf ein Frauenberuf, sagt Swantje Middeldorff, eine Sprecherin der KV, was bedeutet, dass es weniger Vollzeitkräfte gebe. „Wo früher zwei Ärzte waren, braucht es heute drei.“ Aber der Arzt, der früher 60 Stunden arbeitete, der sei Vergangenheit. Zudem ließen sich Ärzte lieber in Betrieben anstellen, als sich niederzulassen mit allen Risiken und mit einer mittlerweile überbordenden Bürokratie.

Das Sozialministerium beklagt die Tatsache, dass ausgebildete deutsche Ärzte lieber ins Ausland gingen, wo sie teilweise erheblich mehr verdienten als in Deutschland. Diese Lücken müsste man dann wieder durch Ärzte aus Osteuropa füllen, die man nach Deutschland holen müsse. „Eine einfache Lösung für das Hausarztproblem gibt es nicht“, sagt Sebastian Altemüller, der kommisarische Pressesprecher des Sozialministeriums. Er stellte in Aussicht, dass man künftig ausländische Abschlüsse leichter in Deutschland anerkennen würde. Für den ländlichen Raum hat das Ministerium ein Programm aufgelegt, in dem es bis zu 30 000 Euro Starthilfe gibt für Ärzte, die sich dort niederlassen wollen.

Auf jeden Studienplatz in Medizin gibt es fünf Bewerber

Natürlich könnte man einfach mehr Ärzte ausbilden. In Baden-Württemberg gibt es 1531 Studienplätze, um die sich jedes Jahr etwa die fünffache Anzahl von jungen Menschen bewirbt. Doch das Wissenschaftsministerium gibt zu bedenken, dass jeder Studienplatz zusätzlich etwa 300 000 bis 350 000 Euro koste. Allein eine Erhöhung der Studienplätze um zehn Prozent würden 45 Millionen Euro mehr kosten, rechnet Jochen Schönmann, der Pressesprecher des Wissenschaftsministeriums vor. Außerdem ist das Ministerium der Meinung, dass eine Erhöhung der Studienplätze nicht unbedingt mehr Hausärzte erzeugen würde. Schließlich könnten die Mediziner abwandern, oder sich als Fachärzte niederlassen. Aber auch da würden sie helfen, Kosten zu senken, einfach weil etwa ein niedergelassener Radiologe billiger ist als die Röntgenstation eines Krankenhauses.

Immerhin hat das Ministerium in die Ausbildung der Ärzte investiert und den baden-württembergischen Universitäten fünf Millionen Euro mehr überwiesen. Fasst man die Aussagen der Ministerien zusammen, ist der Landesregierung das Problem bewusst. Doch eine Änderung ist nicht in Sicht. Dass es gerade in den Ballungsgebieten an Hausärzten mangelt, ist erstaunlich. Eher hätte man auf eine Unterversorgung in ländlichen Gebieten getippt. Die KV begründet es damit, dass es gerade in den Ballungsgebieten besonders viele Arztsitze gibt, die kaum Nachfolger fänden. Die Zahlen sprechen für sich: Im Bereich Esslingen beträgt die Deckung beispielsweise 88 Prozent, in Waiblingen 87,4 Prozent, in Bietigheim Bissingen 88 Prozent. Die KV lässt eine Versorgung bis zu 110 Prozent zu, dann wird der Bereich gesperrt.

Bis irgendwelche Maßnahmen greifen, bleiben Menschen wie Michael R. alleine gelassen. Ruhiger wurde es erst für ihn, als er seine Mutter in ein Pflegeheim nahe seines Wohnortes im Kreis Göppingen holen konnte. Dort erklärte sich der Hausarzt seiner Frau bereit, die Mutter zu versorgen, und Michael R. hatte Zeit, um sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Vor einer Woche ist seine Mutter gestorben.