S21-Baugrube im Herzen der City Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Der angebliche Mehdorn-Oettinger-Deal zu Stuttgart 21 stellt eine neue, spannende Facette des Großprojekts dar, meint Lokalchef Jan Sellner.

Stuttgart - S21 ist ein Projekt, das Emotionen unterschiedlichster Art hervorruft: Die einen sind davon – immer noch – fasziniert, anderen treibt es angesichts unhaltbarer Versprechen und ständiger neuer Kostensteigerungen und Verzögerungen die Zornesröte ins Gesicht. Wieder andere sind einfach nur ratlos oder verfolgen das Geschehen inzwischen gleichgültig oder mit einem müden Lächeln.

Vielleicht gibt es aber doch einen gemeinsamen emotionalen Nenner. Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass das als Jahrhundertprojekt apostrophierte Infrastrukturvorhaben nach fast 25 Jahren Planungs- und sieben Jahren Bauzeit so etwas wie Demut bewirkt. Alle Beteiligten müssen nämlich erkennen, dass der planende Mensch, der sich zudem in einem engen Geflecht von Vorgaben und Vorschriften bewegt, bei einem Projekt dieser Komplexität an Grenzen stößt.

Ein Beispiel krasser Selbstüberschätzung

Stuttgart 21, dessen Baukosten ursprünglich auf 4,5 Milliarden Euro festgeschrieben wurden und das aktuell bei 8,2 Milliarden Euro rangiert, ist ein Beispiel krasser Selbstüberschätzung. Dass es sich dabei um das „bestgeplante Projekt“ handelt, war ja nicht nur ein flotter Werbespruch der Bahn-Verantwortlichen – sie glaubten, wie viele andere auch, tatsächlich daran. Das legt die am Mittwoch eingereichte Klageerwiderung nahe, mit der die Landesregierung die von der Bahn eingeklagte Beteiligung der Projektpartner in Höhe von 2,4 Milliarden Euro an den jetzt erwarteten Mehrkosten abwehren will. Die Klageerwiderungen der Region und der Stadt stehen noch aus.

Das Land glaubt, belegen zu können, dass die Bahn mögliche Ansprüche auf eine Kostenbeteiligung frühzeitig abgetreten hat – in Person des ehemaligen Bahn-Chefs Hartmut Mehdorn. 2007 soll Mehdorn in Gesprächen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger auf schnelles Geld vom Land für einen Risikopuffer gedrängt und im Gegenzug auf weitere verbindliche Zahlungsversprechen verzichtet haben: eine Art Deal.

Die Entscheidung wird Jahre dauern

Die Landesregierung steuerte damals 473 Millionen Euro zum Risikopuffer bei, dafür enthielt der Finanzierungsvertrag lediglich die sogenannte Sprechklausel, wonach die Projektpartner im dem für unwahrscheinlich angesehen Fall höherer Kosten Gespräche aufnehmen. Land, Region und Stadt sehen darin ein Dokument der Unverbindlichkeit, die Bahn dagegen einen Hoffnungsanker, um die Projektpartner, die sie für die Kostensteigerung mitverantwortlich macht, zur Kasse bitten zu können – möglicherweise ein zu schwacher Anker. Das werden Richter klären müssen. Die Entscheidung über den Milliarden-Streit der S-21-Partner wird sich allerdings Jahre hinziehen.

Heute schon erweitert der angebliche Mehdorn-Oettinger-Deal die unendliche Stuttgart-21-Geschichte um eine neue spannende Facette. Sollte die Lesart der amtierenden Landesregierung stimmen, dann hätte der frühere Ministerpräsident aus Sicht des Landes durchaus vorausschauend gehandelt – was sich umgekehrt vom damaligen Bahn-Chef nicht sagen ließe. Wie auch immer der Rechtsstreit über die Kostenverteilung am Ende ausgeht und egal, zu welchen Urteilen die Landesgeschichte über Stuttgart 21 kommen wird, eines ist klar: Die Kosten der Selbstüberschätzung sind enorm. Das muss allen Beteiligten endgültig Demut lehren.

jan.sellner@stzn.de