Ein Prachtexemplar vom Oberrhein. Wie sich Aale vermehren, ist bis heute ein Rätsel. Foto:  

Wenn jetzt am Iffezheimer Fischpass wieder der Europäische Aal ankommt, hat er bereits Tausende Kilometer hinter sich. Porträt eines Wunderfischs.

Iffezhein - Von Rotterdam stromaufwärts läuft es glatt. Im Rhein schwimmen Barben, Nasen, Lachse, Brachsen, Rotaugen. Auch Meerforellen, der Maifisch, das Meerneunauge, immer wieder einmal ein großer Wels, Barsche und Aale. Sie haben es eilig oder nicht, zappeln an den Ufern, lassen sich von kleineren Strömungen treiben, recken die Schuppen in die Sonne, schwimmen beständig an gegen die Wellen, vorbei an großen und kleineren Steinen, an Düsseldorf, Bonn, Wiesbaden, Mainz. Dann kommt Iffezheim.

Das EnBW-Kraftwerk türmt sich auf, mitten im Fluss. Fünf Turbinen röhren unter Wasser. Für Schiffe gibt es Schleusen. Und für Fische? Frank Hartmann steht neben Stufen aus Beton. In den kleinen Becken unterhalb blubbert es wie in Whirlpools. Der Biologe und Fischereireferent des Regierungspräsidiums Karlsruhe überschaut den Iffezheimer Fischpass, eine der größten Fischwanderhilfen Europas.

„Hier geht es sehr turbulent zu, nur schwimmstarke Fischarten schaffen es“, sagt Frank Hartmann. Für die Forscher ist eine solche Anlage ein Glücksfall. Sie können den Pass nutzen, um die Tiere zu zählen oder für Artenschutzprogramme und Besatzmaßnahmen zu entnehmen. Im Frühjahr, wenn besonders viele Fische wandern, sind etliche Mitarbeiter gleichzeitig rund um die Uhr beschäftigt. Für die Informationen über die Bestände interessiere man sich international, erklärt Frank Hartmann. Elf Meter liegen zwischen dem Unter- und Oberwasser, über die 300 Meter lange Treppe können die Fische Stufe um Stufe bewältigen: Jeweils 30 Zentimeter in 36 Becken müssen sie durchqueren, um ihre Reise in die Nebengewässer des Rheins fortzusetzen.

Eines der rätselhaftesten Tiere

Auf ein Tier achtet Hartmann seit einiger Zeit besonders, bald steigt er wieder auf: der Europäische Aal. Glitschig-fettig schaut er aus, verursacht Gänsehaut oder sogar Übelkeit wie der Mutter von Oskar Matzerath in der „Blechtrommel“, wo sich am Strand „wütend hellgrüne Aale“ aus dem Maul eines toten Pferdekopfs drehen. Der schlüpfrige Aal kann sich winden wie eine Schlange, sieht von Nahem aus wie ein kleines Seeungeheuer. Er ist eines der rätselhaftesten Tiere. Und er ist vom Aussterben bedroht. „Früher sind Riesenschwärme in schwarzen Bändern den Rhein hochgezogen. Der Aal war hier ein Brotfisch der Berufsfischerei“, erzählt Hartmann. Fischereisegelschiffe aus den Niederlanden, sogenannte Aalschokker, sah man zuhauf. Nachts wurden die Schiffe in den Fluss geschleppt und verankert. „Das war etwas Besonderes, das der Vater an den Sohn weitergeben wollte – nachts zu fischen, mithilfe der Glocke zu hören: Er hat angebissen.“

Heute ist diese Tradition in weiten Teilen Baden-Württembergs vorerst nicht mehr erlaubt. Das stößt manchem bitter auf, ist der Aal „heiß geräuchert“ doch „ein Gedicht“, wie sich Hartmann erinnert.

Der Lebenszyklus des Aals ist ein großes, faszinierendes Rätsel. Bisher ist noch keinem Forscher gelungen, es bis zum Ende aufzulösen. Schon Freud hatte in seinem Medizinstudium am Aal herumgedoktert, dem Phallusfisch. Immer wieder gab das Leben dieser Tiere Anlass zu beinahe poetischen Spekulationen. In der Antike glaubte man, Aale wachsen aus Schlamm, entstehen durch Steinereiben. Niemand hatte je Jungtiere gesehen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten italienische Forscher im Mittelmeer Larven, die aussahen wie ein Weidenblatt und dem Aal zugeordnet werden konnten.

Das Laichgebiet liegt 6000 Kilometer entfernt von Europas Küsten

Es ist fast nicht zu glauben: Das Laichgebiet aller Europäischen Aale ist in der Sargassosee, 6000 Kilometer entfernt von Europas Küsten, östlich von Florida, südlich der Bermuda-Inseln.

Die Aalwanderung ist eines der größten biologischen Wunder. Ein wahnwitziges Unterfangen: Ein Fisch, der jahrelang in den Binnengewässern Europas lebt, macht sich auf ans andere Ende der Welt. Was dort geschieht, hat noch kein menschliches Auge gesehen: das Liebesspiel der Aale in rund tausend Meter Tiefe, wo es eiskalt und stockdunkel ist. Wie kann man da zueinanderfinden?

Sicher ist: Aus dem Laich der Elterntiere entschlüpfen in der Tiefe der Sargassosee Abermillionen von Larven. Sehr hungrige Larven. Als wüssten sie aus einem früheren Leben den Weg zurück, zieht es sie auf die große Reise durch den Atlantik. Forscher vermuten, die Larven brauchen ein spezielles Futter, das sie in einer ganz bestimmten Reihenfolge im Laufe ihrer Entwicklung auf dem Rückweg finden. Noch nie ist es Forschern gelungen, den Europäischen Aal künstlich zu vermehren. Und auch in der Natur überleben im Schnitt nur zwei von 1000 Larven die drei Jahre dauernde Reise in die alte Heimat.

Der Aal frisst alles

Bevor die Kontinente vor Millionen von Jahren auseinanderdrifteten, lag die Sargassosee noch nah bei Europa, und die urzeitlichen Aale hatten es gar nicht so weit. Der Weg wurde immer weiter und weiter, die Fische hielten trotz der Kontinentaldrift an ihrem Laichplatz fest wie an einer Stammkneipe.

„Dass eine solche Tierart überlebt, ist ein reines Wunder“, meint Frank Hartmann. Niemand weiß, warum seit einigen Jahren sehr viel weniger Aale gesichtet werden, denn das Tier ist robust, „ein Hightech-Fisch“, wie Frank Hartmann sagt. Der Aal kann einiges aushalten, etwa mehrmals gefressen werden: Schwarzmundgrundeln verschlingen die Glasaale, die dann einfach wieder über die Kiemenspalte ihrer Jäger entfleuchen. Der Aal ist ein unkapriziöser, pragmatischer Geselle. Er frisst alles: Insektenlarven, Würmer, Fische. Sein europäisches Leben verbringt er allein mit Fressen und Verstecken. Das gefällt manchem Weibchen so gut, dass es bis zu 50 Jahre im Süßwasser bleibt und eine Größe von anderthalb Metern erreichen kann.

Der Aal ist ein Überlebenskünstler. Wer nah an Seen, Flüssen oder feuchten Wiesen wohnt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er einen Aal im Garten oder Keller findet: Das nachtaktive Tier überlebt bis zu 20 Stunden an Land. Es sieht schlecht im Süßwasser, dafür kann es fast so fein riechen wie ein Hund. Schon ein einziges Geruchsmolekül löst Reaktionen in den extrem gefalteten Aal-Nasenöffnungen aus.

Ganz zu schweigen von der Beschaffenheit seines wundersamen Körpers, seiner festen Haut, die in Skandinavien früher als Türscharnier benutzt wurde. Oder seinem starken Herz, mit vier verschiedenen Schrittmachern versehen. Seine größte Besonderheit: ein Netz in der Schwimmblase, das die Sauerstoffversorgung extrem steigert. „Würde man dieses Netz auffalten, ergäbe sich eine Fläche von 120 Quadratmetern“, sagt Frank Hartmann.

Der Aal ist in Gefahr

Bei anderen Fischarten ist die Erhaltung einfacher als beim Aal. Alles lässt sich genau berechnen, damit der Elterntierbestand wieder aufgebaut werden kann. „Bei Aalen können wir das nicht“, sagt Hartmann. Das Tier ist in Gefahr. Seit den 1980er Jahren geht das Glasaalaufkommen kontinuierlich in den Keller.

Was ist geschehen? Die Forscher mutmaßen: Um die Sargassosee ist es wärmer geworden, das hat Einfluss auf die Nahrung. Finden die Larven zu wenig Fressen? Es könnte auch sein, dass in der Sargassosee weniger Elterntiere ankommen als früher. Liegt es am Wetter? Über dem Atlantik kämpft das Islandtief gegen das Azorenhoch, diese Oszillation hat Auswirkungen auf den Golfstrom. Werden manche Elterntiere woanders hingetrieben, finden den Weg nicht mehr? Oder ist der Mensch schuld? Franzosen und Asiaten lieben Glasaale als Delikatesse.

Der Internationale Rat für Meeresforschung rief zu Beginn des Jahrtausends dazu auf, Gefahren für die Aale wie Fischerei, Gewässerverschmutzung oder Pumpwerke drastisch zu reduzieren. 2007 folgte die EU-Aalschutzverordnung. Darin wird der Glasaalfang beschränkt, die Länder sollen einen Aalmanagementplan erstellen. In Baden-Württemberg nimmt man das ernst. Der Fang ist seit Anfang 2013 am Rhein und am unteren Teil des Neckars das ganze Jahr über verboten.

Die Forscher können nur vermuten, was geschieht

Jedes Jahr im Herbst verwandeln sich Tausende Europäische Aale in Blankaale. Sie werden silbrig-grau, die Augen vergrößern sich. Für ihre einstige Leidenschaft, das Fressen, scheinen sie sich plötzlich nicht mehr zu interessieren. Ihr Verdauungstrakt bildet sich zurück, stattdessen entwickeln sie Geschlechtsorgane. Alles konzentriert sich allein auf die Arterhaltung. Wenn es regnet und stürmt, werden sie besonders unruhig, auch der Mond scheint jetzt auf ihr Verhalten Einfluss zu nehmen. Die Aale beginnen ihre Wanderung. Zuerst von kleinen Bächen in feuchte Gräben, durch nasse Wiesen in größere Flüsse. Dann stürzen sie sich ins Meer. Sie wollen in die Sargassosee. Wie Getriebene schwimmen sie, ohne je mehr etwas zu fressen. Sie wandern tagsüber in 200 Meter Tiefe, nachts tauchen sie in eisige 800 Meter hinab, ein gutes Jahr dauert diese Reise.

Wie finden die Aale, gegen den Golfstrom, ihren Weg? Können sie Magnetismus fühlen? Mit allerletzter Kraft erreichen die Tiere ihr Laichgebiet. Das Weibchen hat zu dem Zeitpunkt Millionen von Eiern produziert. Einst aalschlankes Topmodel, ist es am Ende aufgeblasen wie ein Ballon. Die Forscher können nur vermuten, was dann geschieht: Die Tiere finden einander im Dunkel der Tiefsee. Die Weibchen geben die Eier ab, die Männchen ihre Spermien darüber. Dann sterben alle. Zurück bleiben nur die Larven.

Die Forscher in Iffezheim zählen jedes Jahr alle Fischarten, die durch ihren Pass kommen. Drei Kameras sind auf die Tiere gerichtet. Frank Hartmann beobachtet immer wieder: „Viele geben auf.“ Fast die Hälfte schafft es nicht ganz nach oben, oft wirken die Tiere beinahe beleidigt. Doch wer bis vor das Fenster der Forscher kommt, scheint sich im Erfolg zu sonnen wie ein Olympiasieger nach dem 100-Meter-Lauf. Manche wirken, als wollten sie mit der Flosse winken, sagt Hartmann. Eine Fischart hat man am Fenster lange nicht bemerkt: Aale. Sie fackeln nicht lange, sehen es wohl pragmatisch und flitzen durch. Keine Zeit für Posen. Von jedem einzelnen wissen die Forscher: Er ist aus der Sargassosee bis hierher geschwommen. Ein wundersames Wesen aus der Tiefsee.