Heinz Wittmann treibt sein Karussell von Hand an. Foto: Oliver Willikonsky - Lichtgut

Der 90 Jahre alte Motor ist kaputt, also dreht der Schausteller Heinz Wittmann sein Pferdekarussell höchstselbst mit Muskelkraft Runde um Runde.

Stuttgart - Er dreht am Rad. Und dreht und dreht. Manchmal zehn Stunden lang. 61 Jahre alt ist Heinz Wittmann, um seine Fitness braucht er sich derzeit nicht sorgen, mit seinen Armen hält er sein Karussell in Schwung. Wobei das Schwierigste ist, es erst einmal in Schwung zu bringen. „Am Anfang braucht man ganz schön Kraft“, sagt er, „vor allem, wenn viele Kinder auf den Pferden sitzen.“ Spricht’s und packt die Stange einer Gondel an, um zu schieben. Ist die erste Runde geschafft, drückt er auf die Stoppuhr, die piepst nach zwei Minuten, dann lässt er’s auslaufen. Und kann verschnaufen.

Gleich zu Beginn des Frühlingsfestes ist der 90 Jahre alte Elektromotor von Siemens verreckt, die Lager hatten sich festgefressen. In der Nähe gibt es zwar einen Bastler und Tüftler, Elektro Ott aus Zuffenhausen. Der repariert den Schaustellern ihre teilweise steinalten Motoren. „Gestern war ich dort“, sagt Wittmann, „da war das Ding noch auseinandergebaut.“ In den nächsten Tagen soll es fertig werden. So lange schiebt Wittmann halt. Ganz so wie es der Uropa getan hat, der einst 1905 das Karussell bauen ließ.

Ein Karussell der ersten Generation

Es ist ein Karussell der ersten Generation. Man erkennt dies daran, dass am Drehgestell Stangen hängen, an denen Pferde und Kutschen befestigt sind. Bei späteren Modellen befestigte man die Wagen auf dem Boden. Die Pferde schnitzte ein Holzbildhauer aus dem Schwarzwald, der sonst Kreuze und Engel für Kirchen schuf. „Die Pferde sind Unikate“, sagt Wittmann, „die wollten sie mir schon oft abkaufen.“

Das kommt natürlich nicht infrage für den Spross einer Schaustellerfamilie, die ihre Wurzeln bis 1703 zurückverfolgen kann. Gaukler, Seiltänzer, Jongleure waren sie, retteten einst die Stadt Rothenburg ob der Tauber vor einer Feuersbrunst. Aus Dank gewährte Fürst Clemens der Familie das Recht, ihre Toten in der Fürstengruft zu bestatten. „Acht Generationen ruhen dort“, sagt Wittmann.

Die Vorfahren reisten mit einer Monstrositätenschau

Stolz sind sie auf ihre Herkunft und ihre Altvorderen, die Schausteller. Und können wunderbare Geschichten aus vergangenen Zeiten erzählen. Wittmann macht da keine Ausnahme. Und wie er so dreht, erzählt er, wie die Vorfahren einst ein Moritatenzelt hatten, wo man mit Stabmännchen Theater spielte. Oder ein Panoramazelt, wo hinter Löchern Bilderwände versteckt waren. Über einem Loch stand: Blick in die Welt. Schaute man durch, sah man – den Neckar.

Man reiste mit einer Monstrositätenschau, führte etwa fünfbeinige Kälber vor. Die Oma hatte eine Polarschau, zeigte in einer Schaubude Pinguine, Seehunde und einen Eisbären. Bis der Eisbär zu groß wurde. Und der Uropa kam auf die Idee, das Kinderkarussell bauen zu lassen. 1910 in Berlin setzte sich Kronprinz Eitel Friedrich auf einen Schimmel, das Pferd trägt seitdem einen Orden auf der Stirn. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, verbuddelte Wittmanns Opa das Karussell auf dem Lagerplatz in Illertissen. Er überlebte Schlachten in Frankreich, in Stalingrad und auch die Gefangenschaft. Abgemagert und gezeichnet kehrte er zurück. Und ließ das Karussell wieder fahren. Doch die Jahre in der Erde hatten die Malereien beschädigt. Also kratzte er die Motive der Gebrüder Grimm ab und fragte den Kunstmaler Josef Wallner: „Sepp, was würdest du draufmachen?“ Nun hatte der Wallner-Sepp Familie in Amerika, die kannte ein hohes Tier bei Disney. Dort fragte man nach, und tatsächlich, er durfte Micky und Minnie Maus, Donald und Dagobert Duck aufs Karussell malen. Noch heute sind die Originale in Ölfarbe zu sehen. Das Honorar unter Freunden: eine Kiste Bier.

Für Franz Josef Strauß musste man das Dach abmontieren

Später drehten auch mal Lothar Späth und Franz Josef Strauß Runden auf dem Karussell. Für das bayerische Urviech Strauß musste man allerdings das Dach der Kutsche abschrauben. Ob er eingestiegen wäre, wenn er gesehen hätte, dass an der Kutschentüre der preußische Adler prangt? Späth machte es richtig, er stieg in die Kutsche mit dem Württemberger Wappen.

So erzählt Wittmann seine Geschichten. Und schiebt. Und schiebt. Und schiebt.