Was wäre das Familienfrühstück ohne Zeitung? Foto: Michael Luz

Man kann seine Zeitung im Internet lesen oder auf Papier, völlig egal. Nur eines ist unvorstellbar: ein Tag ganz ohne Zeitung. Weil sie einen nicht nur informiert und unterhält, sondern auch mächtig aufregt – und manchmal sogar mit einem kuschelt.

Papier kann süchtig machen. Papiergeld. Geschenkpapier. Zigarettenpapier. Und nicht zu vergessen: Zeitungspapier. Einer der berühmtesten Abhängigen von druckergeschwärzten Papierseiten war wohl der begnadete Österreich-Hasser und Burgtheater-Beschimpfer Thomas Bernhard (1931–1989). Der Dramatiker irrlichterte am 30. August 1968 von seinem damaligen Wohnort Ohlsdorf aus durch ganz Oberösterreich und klapperte auch die Kioske im grenznahen Bad Reichenhall ab – auf der Suche nach einer frischen Ausgabe der „Neuen Zürcher Zeitung“. Der Süchtige hatte schließlich mehr als 320 Autokilometer zurückgelegt, bis er seinen papiernen Stoff endlich bekam. Seine Wahnsinnstour verteidigte er mit dem elitären Spruch, wonach „ein Geistesmensch nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ nicht bekommt“.

Heute, in einer Zeit, in der die Nachrichten über die digitalen Medien immer und überall prinzipiell für jeden zugänglich sind, muten eine derartige Lesertreue und Liebe zum gedruckten Produkt geradezu gespenstisch an. Die Zeitungsbranche ist im Umbruch, keine Frage. Nachrichten müssen im Internet schneller denn je ihren Leser finden. Jeder Journalist, jeder Reporter steht im harten Wettbewerb mit ambitionierten Bloggern, mit erregten Augenzeugen, seriösen Kommentatoren und lästigen Sprücheklopfern aus den sozialen Netzwerken. Und Nachrichten sowie Hintergrundberichte werden – daran besteht auch kein Zweifel – vermehrt auf digitalen Endgeräten konsumiert – in Textform, als Bilder und vor allem als Videos. Kein Wunder also, dass kein Tag vergeht, an dem nicht jemand das Totenglöckchen für die gedruckte Zeitung läutet.

Klassische Medien sind nicht tot

Doch die klassischen Medien sind nicht tot, im Gegenteil. Ob die Zeitung nun auf dem Smartphone, auf dem Tablet oder nach gutbürgerlicher Tradition auf Papier gelesen wird, ganz egal – sie ist gerade dabei, sich neu zu erfinden und ihrer gesellschaftlichen Rolle als vierte Gewalt zumindest in den westlichen Demokratien gerecht zu werden. Auch wenn die klassischen Medien nicht mehr die einzigen unbestrittenen Deuter und Erklärer der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, so finden sich in letzter Zeit immer mehr Beispiele für eine Rückkehr zu altem Selbstbewusstsein bei der politischen Meinungsbildung.

Während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes zwischen Hillary Clinton und Donald Trump erschienen unzählige Reportagen, Porträts und Interviews. Viele davon waren kritisch, unparteiisch und für die Kandidaten sowie ihre Wahlkampfteams äußerst unbequem. Die Redaktionen – und längst nicht nur die nordamerikanischen – bohrten richtig dicke Bretter. „Wir erleben gerade so etwas wie eine Sternstunde der etablierten Medien“, sagt die deutsche Politologin Constanze Stelzenmüller, die an der renommierten Denkfabrik Brookings Institution in Washington forscht.

Das nur am Rande: Kein Blogger, auch kein Twitterer hat das viel diskutierte Video aus dem Jahr 2005 veröffentlicht, in dem Trump mit lüsternen und frauenverachtenden Machosprüchen zu hören ist. Nein, das peinliche Video konnte man sich auf der Webseite der „Washington Post“ anschauen. „Die ‚New York Times‘, die ‚Washington Post‘ und andere Zeitungen und Radiostationen haben in diesem Wahlkampf wirklich großartige investigative Arbeit geleistet“, meint die USA-Expertin Stelzenmüller. „Man konnte über die beiden Kandidaten alles wissen, weil alles von den Medien zusammengetragen worden ist.“

Wertvoller Journalismus

Ein anderer Leuchtturm im endlosen Meer der Informationen sind die Enthüllungen rund um die Panama Papers. Dabei handelte es sich um mehr als elf Millionen Dokumente zu 214 000 Briefkastenfirmen, die von einer Kanzlei aus Panama verwaltet worden sein sollen. Dieses Datenleck – bei der panamaischen Anwaltskanzlei Mossack Fonseca – war das größte, mit dem es Journalisten jemals zu tun hatten. Schon wegen der immensen Datenmengen war Teamarbeit angesagt, recherchierten 400 Journalisten gemeinsam. Die folgenden Veröffentlichungen – auch in deutschen Blättern wie etwa der „Süddeutschen Zeitung“ – klärten die staunende Öffentlichkeit darüber auf, wie Politiker, Manager, Diktatoren oder auch berühmte Sportler weltweit über Briefkastenfirmen ihr Vermögen verschleiern.

Nicht minder wertvoll sind die investigativen Recherchen und kritischen Beiträge zu einer der besorgniserregendsten Entwicklungen der letzten Jahre: der Bedrohung der friedlichen Zivilgesellschaft durch Islamisten und Hassprediger. Gerade bei der Berichterstattung über die staatsfeindlichen Machenschaften der terroristischen Netzwerke in Süddeutschland haben sich die Reporter der Stuttgarter Nachrichten mehrfach hervorgetan. Die Leser unserer Zeitung kennen dadurch etwa den Namen des Salafisten Bilal Bosnic, der in seinem Heimatland Bosnien-Herzegowina im Verdacht steht, in Westeuropa und mitten im Schwäbischen Dschihadisten für den Krieg in Syrien und dem Irak zu rekrutieren. Dank gut informierter Journalisten weiß man nun besser um die Gefahr, die von salafistischen Hasspredigern für Deutschland ausgeht.

Mehr als ein Stück Papier

Allerdings sind es nicht nur die großen Enthüllungsgeschichten, die die Menschen umtreiben und die gesellschaftliche Relevanz klassischer Medien tagtäglich unter Beweis stellen. Eine gut gemachte Zeitung, die informiert, kritisiert und gleichsam unterhält, ist wesentlich mehr als nur ein Stück bedrucktes Papier, in das man morgen den Fisch von gestern wickelt, wobei man sagen muss, dass auch diese praktische Funktion bemerkenswert ist. In ein störrisches iPhone wickelt man weder einen ollen noch einen frischen Fisch.

Zudem kann man mit seiner ausgelesenen Zeitung nach einer lästigen Stechmücke schlagen, einen lustigen Tapezierhut basteln, nach einem Regentag seine empfindlichen Lederschuhe auspolstern – und man kann mit seiner Tageszeitung sogar herrlich kuscheln. „Ich schlafe mit der Zeitung ein, wenn ich todmüde bin, und wache auch damit auf“, bekannte kürzlich der bekannte Verleger von Kunst- und Bildbänden, Gerhard Steidl. Und mit Blick auf sein Smartphone ergänzte er: „Schlafen Sie mal mit so einem Ding ein, das ist dann irgendwann kalt. Aber schlafen Sie mal auf einer Zeitung ein! Das ist mir gerade bei einer Flugreise passiert – danach das Knistern am Morgen, oh, ist das schön!“

Sehnsucht nach realen Begegnungen

Schön? Schönheit ist möglicherweise das Stichwort, wenn es um die Zukunft der gedruckten Zeitung geht. Schön im Sinne von sinnlich. Denn in einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen über den Stress in der virtuellen Welt beklagen, sich von ihren hyperaktiven Facebook-Freunden gehetzt fühlen und beim Dauersurfen im Internet emotional untertauchen, wächst eine starke Sehnsucht nach sinnlichen Begegnungen mit realen Menschen und Dingen. Das Handwerk erlebt daher eine Renaissance, auch für das Selbermachen und Selbstreparieren begeistern sich wieder viele.

Gutes Design, Qualität zum Anfassen, seriöse Geschichten – eine Zeitung zu lesen erfordert Konzentration, ein bisschen Zeit und ein Faible für knisterndes, nach Druckerschwärze riechendes Papier. Manche können nicht genug von diesem Duft haben. Wer Letzteres albern findet, mit dem kunstvollen Umblättern und Falten mehr Nöte hat als seine Eltern und Großeltern, der liest seine Zeitung schon heute mobil und digital. Als App, in der ständig aktualisierten Online-Version, egal. Die Zeitung bleibt so oder so, was sie ist und war. Ein unentbehrlicher Begleiter durch den Tag. Ein Augenöffner.