Margot Bauer-Nill ist eine Zeitungsleserin der ersten Stunde. Foto: Lichtgut - Oliver Willikonsky

Margot Bauer-Nill kennt die Stuttgarter Nachrichten von der ersten Stunde an. 14 Jahre alt war sie, als 1946 die erste Ausgabe erschien. Ein Tag ohne ihre Zeitung? „Undenkbar!“, sagt die 84-Jährige. „Die Stuttgarter Nachrichten sind meine Heimat.“

Wer Margot Bauer-Nill zum ersten Mal trifft, staunt nicht schlecht: 84 Jahre alt soll die lebhafte Frau mit den kurzen, dunklen Haaren sein? Ganz in Schwarz gekleidet, eine große Perlenkette mit Goldherz um den Hals und mit fein lackierten Fingernägeln empfängt sie den Besuch in ihrem Haus in Stuttgart-Gablenberg: „Jetzt sind Sie doch von der anderen Seite gekommen, über die Treppen wäre es schneller gegangen“, sagt sie mit knitzem Lächeln. Für den Besuch hat Bauer-Nill extra ihr Bauer-Stüble eingeheizt – so nennt sie den mit dunklen Schränken und einer blauen Samtcouch ausgestatteten Empfangsraum im Erdgeschoss, der nach dem Familiennamen ihres Mannes benannt ist. Fenster und Boden hat sie auch noch mal sauber gemacht. „Ich habe keine Putzfrau, irgendwann muss ich es sowieso tun“, sagt Margot Bauer-Nill und legt ein Holzscheit in den klinkerbesetzten Ofen nach.

Der Tag beginnt mit den Stuttgarter Nachrichten

Ohne die Stuttgarter Nachrichten fängt die gebürtige Gablenbergerin den Tag nicht an. „Ich bekomme Schweißausbrüche, wenn aus Versehen mal eine andere Zeitung im Briefkasten landet“, sagt sie und schlägt lachend die Hände über dem Kopf zusammen. „Da fehlt mir der KNITZ, da fehlt mir alles.“ Doch bevor sie mit der Lektüre beginnt, steht täglich ein einstündiges Gymnastikprogramm an. „Da bin ich sehr diszipliniert, das hält mich fit.“ Dann erst holt sie die Zeitung aus dem Briefkasten.

Das Blatt liest sie dann buchstäblich von hinten nach vorn. „Ich sehe mir das Titelblatt an, drehe das erste Buch der Zeitung um und beginne dann von hinten.“ Beim Wirtschafts- und Sportteil macht sie es genauso, zum Schluss kommt der Lokalteil „Stuttgart und die Region“ dran. „Das ist mein Schmankerl, das hebe ich mir bis zuletzt auf.“ Weil ihr das morgendliche Ritual wichtig ist, macht sie vormittags keine Termine aus – „nicht mal beim Arzt“. Damit sie auch sonntags eine Frühstückslektüre hat, legt sie sich die Wochenendbeilage der StN beiseite.

„Das ist einfach meine Zeitung“

Schon ihr Vater hatte die StN abonniert. „Ich bin damit aufgewachsen, das ist einfach meine Zeitung, ich kann keine andere lesen.“ Und weil sie ein Fan der Rubrik „Auf gut Schwäbisch“ ist und regelmäßig den Stammtisch im Zeppelinstüble besucht, liefert sie auch Beiträge dafür – etwa mit ihrer Erinnerung an den im März 2016 gestorbenen früheren Ministerpräsidenten Lothar Späth: „Es war im Jahr 1989 bei einem Sommerfest im Mahdental. Ein Gast an unserem Tisch gab Sekt für alle aus. Lothar Späth war auch dabei. Er trat ans Mikrofon und sagte: ,Jetzt trinken wir auf die Bonner Politik, denn die kann man nur im Suff ertragen.‘ Dieses Ereignis werde ich nie vergessen.“

Als die StN bei der Aufarbeitung der Geschichte des Hotels Silber auf der Suche nach Zeitzeugen waren, meldete sich Margot Bauer-Nill und berichtete von ihren Erlebnissen. Ihr Vater Fritz Nill wurde im Frühjahr 1936 von der Gestapo verschleppt – weil er mit einem Freund Spenden für notleidende Familien gesammelt hatte, deren Angehörige in einem von den Nazis eingerichteten Lager eingesperrt waren. „Pflichtarbeitsstelle“ wurde das Lager genannt, das sich nahe Nills Arbeitsstelle beim Gaswerk in Gaisburg befand und in dem Betonplatten gefertigt wurden. Dort waren Kommunisten und Sozialdemokraten inhaftiert, auch Kollegen und Nachbarn der Familie Nill.

Fünf Tassen Kaffee täglich

Ein Nachbar verpfiff Fritz Nill und seinen Freund. Die Gestapo, die im Hotel Silber ihre Zentrale hatte, verhörte Nill vier Tage und drei Nächte lang. Danach kam er wieder frei. „Durch den Schock wurde seine Bauchspeicheldrüse in Mitleidenschaft gezogen, er wurde Diabetiker.“ Auch heute noch, wenn Margot Bauer-Nill diese Geschichte erzählt, ringt sie um die Fassung. „Ich war zwar klein, aber ich kann mich noch gut an diese schlimme Zeit erinnern“, sagt sie, hält einen Moment inne und wischt sich dann entschlossen die Tränen aus den Augen.

In 84 Jahren hat Margot Bauer-Nill, die zwei Söhne und vier Enkel hat, viele Menschen kennengelernt. Etwa die Lebenspartnerin von Fälscher Konrad Kujau, der zweifelhafte Geschichte geschrieben hat. Die beiden Frauen arbeiteten in einem Kaffeegeschäft. Noch gut kann sie sich daran erinnern, wie die Kollegin plötzlich im dicken BMW vorfuhr und teuren Pelz trug. Auch Kujau begegnete Margot Bauer-Nill immer wieder. Die StN berichteten dann, dass dieser die „Hitler-Tagebücher“ verfasst und dem Magazin „Stern“ für 9,3 Millionen Mark (rund 4,7 Millionen Euro) verkauft hatte.

Mit Kaffee kennt sich die gelernte Einzelhandelskauffrau bis heute aus. In einem exquisiten Kaffeegeschäft in der Alten Poststraße, dem Muggefugg, lernte sie Kaffee rösten – „von Hand“ – und den Umgang mit nobler Kundschaft, die von weit her kam. Fünf Tassen trinkt Margot Bauer-Nill täglich, selbst gebrüht versteht sich. „Ich trinke nirgendwo sonst Kaffee, mir schmeckt der von den anderen nicht.“ Die erste Tasse trinkt sie freilich nur mit den Stuttgarter Nachrichten.