Vor 500 Jahren hat Martin Luther seine „95 Thesen“ veröffentlicht. Foto: dpa

Protestanten und Katholiken zeigen sich zum Start des Lutherjahres so nah wie nie – meint der StZ-Kulturressortleiter Tim Schleider.

Stuttgart - Es ist alles genau geplant, und man kann schon jetzt in den Terminvorschauen studieren, was im März in Hildesheim, im Mai auf der Wartburg, im Juni in Berlin und am 31. Oktober in Wittenberg stattfinden wird: Das Lutherjahr 2017 nimmt Fahrt auf, Kirche und Staat sind in Festlaune, Gedenken ohne Ende.

- Kann es da noch große Überraschungen geben? Nun, die erste ist jedenfalls schon zu Protokoll zu nehmen: Wer hätte vorher gedacht, dass sich wichtige Vertreter der katholischen Kirche so bereitwillig in die Schar der feiernden Protestanten einreihen? Wer hätte gedacht, dass Papst Franziskus am Montag aus Anlass des 500-Jahr-Reformationsjubiläums eine Spitzendelegation der EKD in Privataudienz empfängt und sich von einem evangelischen Bischof nach Deutschland einladen lässt? Wer hätte vermutet, dass aus Anlass zweier separater Bibel-Neuübersetzungen der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und der Münchner Kardinal Reinhard Marx gemeinsam zu einer Bibeltagung am Donnerstag nach Stuttgart einladen?

Ein „Versöhnungsgottesdienst“ als Zeichen des Aufbruchs

Und wer hätte zuvor für möglich gehalten, dass beide Herren als Führung ihrer Konfessionen in Deutschland im März in Hildesheim einen „Versöhnungsgottesdienst“ halten werden, der auch ein Zeichen gemeinsamer Buße sein soll über ein halbes Jahrtausend Kirchenspaltung? „Na ja, was sind schon Zeichen“, werden Zweifler an dieser Stelle einwenden. Aber diese Kritik zieht ausnahmsweise mal nicht – in nichts anderem als in Zeichen äußert sich zunächst einmal jede Religion; Zeichen der Hingabe, der Demut, der Hoffnung, der Klage, des Miteinanders, des Bedenkens, des Aufbruchs. Alles, was an Taten der Gläubigen erwachsen kann, wurzelt in solchen Zeichen. Insofern zeigen und erleben sich die deutschen Protestanten und Katholiken gerade so nah wie noch nie – just in jenem Jahr, da vor 500 Jahren Luther den Graben zwischen ihnen aufriss.

Und man sollte nicht übersehen, wie tief diese Spaltung war, keineswegs nur in den zwei Jahrhunderten voller Religionskriege, die auf die Ereignisse in Wittenberg 1517 folgten. Nicht vergessen ist auch die lange Periode, in der die Protestanten eng verbunden waren mit Preußentum und Wilhelminismus, die Zeit, in der Katholiken von höchster Stelle per se als „Feinde des Reichs und der deutschen Nation“ abgestempelt wurden, weil sie angeblich alle nur auf Rom hörten. Und ja, wahrscheinlich gibt es auch heute noch in Deutschland Gegenden, wo die Mitglieder einer katholischen und einer evangelischen Gemeinde in unmittelbarer Nachbarschaft freiwillig kein Wort miteinander reden, weil die einen in ihrer Messe bekanntlich berauschendes Kraut inhalieren und die anderen im Abendmahl das Blut Christi verjubeln.

Die Ökumene des Alltags sieht Trennendes nicht mehr als zwingenden Trennungsgrund

Insgesamt aber sind just an der Basis der Gemeinden die alten konfessionellen Kulturkämpfe fast überall einem ökumenischen Miteinander gewichen, bei dem man sich neugierig und freundschaftlich begegnet und in Projekten gemeinsam meistert, was einzeln doch nur scheitern würde. Diese Ökumene des Alltags nimmt Trennendes im Glauben noch wahr, ächzt auch über manche Feinheit der Lehrbücher, sieht es aber nicht mehr als zwingenden Trennungsgrund. Und diese Dynamik scheint auch bei den Hierarchen anzukommen – jedenfalls dann, wenn der aktuelle Papst in Rom sich eben nicht vorrangig als Dogmatiker der Weltkirche, sondern als den Menschen zugewandter Seelsorger sieht.

Wie weit der Schwung dieser ersten Wochen des Reformationsjahres 2017 führen und reichen kann, ist offen. Dass aber die Spitzen beider Konfessionen spüren, wie in diesem Jubiläum eine Chance zu mehr Miteinander steckt, lässt hoffen. Während andernorts das „christliche Abendland“ zum Gegenstand hohler Parolen wird, zeigen sie so den wahren Wert jener Botschaft, die ihnen gemeinsam anvertraut ist.