Magersucht ist eine besonders hartnäckige Krankheit und führt oft zum Tod. Foto: dpa/Jens Kalaene

Der Stuttgarter Verein Lagaya therapiert seit 35 Jahren Frauen mit Suchtmittelabhängigkeiten. Alkohol, Tabletten oder harte Drogen sind allerdings nicht mehr häufigster Grund für eine Therapie.

Stuttgart - Die eine Klientin isst nur einen einzigen Apfel am Tag, die andere verdrückt während einer Essattacke schon mal zwei ganze Torten und fünf Liter Eiscreme, die dritte stopft Spaghetti, Schokolade und Burger in sich hinein, um danach alles wieder zu erbrechen. Essstörungen sind bei Frauen weit verbreitet – bei den Männern sind etwa zehn Prozent betroffen. Die Diplompsychologin Violeta Hristova-Mintcheva betreut bei der Frauensuchtberatungsstelle Lagaya Klientinnen mit gestörtem Essverhalten. Seit 35 Jahren ist Lagaya tätig. Heute sind nicht mehr Alkohol, Tabletten oder harte Drogen der häufigste Grund für eine Therapie, sondern die Essstörungen Magersucht, Bulimie und Binge-Eating, damit werden ungezügelte Fressattacken bezeichnet.

Stiller Tod durch Magersucht

„Wir haben pro Jahr etwa 400 Klientinnen: Davon kommen 35 Prozent wegen einer Essstörung, 30 Prozent wegen ihrer Alkoholsucht und 20 Prozent wegen einer Abhängigkeit von Opioiden und Medikamenten“, sagt sie. „Magersucht ist die grausamste aller Süchte“, stellt sie nüchtern fest, und davon sind nicht nur junge Frauen betroffen. 30 Prozent der Betroffenen sterben daran. „Das ist eine höhere Rate als bei Drogen und Depressionen.“ Allerdings bekommt die Öffentlichkeit – anders als bei Drogentoten – davon nichts mit, denn die Betroffenen sterben ganz im Stillen, meist an multiplem Organversagen.

Mit 32 Kilogramm ins Krankenhaus

Den Weg in Violeta Hristova-Mintchevas Therapiesitzungen, bei denen gemalt, musiziert, gesungen und mit speziellen Übungen die eigene Körperwahrnehmung trainiert wird, fand auch Patricia A. (Name geändert). 37 Kilo bei 1,56 Meter Körpergröße wog sie, als sie als sie dorthin kam. „Ich habe nur noch einen Apfel am Tag gegessen, und das mit sehr schlechtem Gewissen“, erzählt sie. Als Jugendliche hatte sie sich auf 32 Kilo heruntergehungert. Da griffen ihre Eltern ein und lieferten sie ins Krankenhaus ein. Die Essstörung hatte sie immer noch, als sie wieder entlassen wurde. Dann zog sie zum Studieren nach Stuttgart und merkte, dass sie ohne die elterliche Aufsicht nicht mit ihrer Sucht zurechtkam. Im Internet fand sie Lagaya und war dort schließlich sieben Jahre lang in Behandlung.

Die Gedanken kreisen ums Essen

„Das ist ja schon ein ungewöhnlicher Schritt, dass eine Frau aus eigenem Antrieb wegen ihres Essverhaltens eine Beratungsstelle aufsucht“, bemerkt Lagaya-Geschäftsführerin Stephanie Biesinger. Vor 35 Jahren startete die Beratungsstelle mit zwei Mitarbeiterinnen. Heute sind dort 34 Sozialpädagoginnen, Psychologinnen und Verwaltungskräfte beschäftigt. Hinzu kommt eine Handvoll Ehrenamtliche.

Die Anforderungen an die Beratungsstelle werden immer vielfältiger: Neu hinzugekommen ist beispielsweise ein Projekt, in dem jungen Mädchen die Chancen und Risiken der Mediennutzung bewusst werden sollen. Und neben den betreuten Wohngruppen für suchtmittelabhängige Frauen gibt es seit zwei Jahren auch das ambulant betreute Wohnen für Frauen mit Essstörungen, denn die sind besonders hartnäckig, wie Patricia A. bestätigt: „Den ganzen Tag kreisen die Gedanken ums Essen. Aber es reicht schon, wenn man die anderen essen sieht. Der Hunger ist nicht mehr da.“ Vor allem extrem leistungsorientierte Frauen sind empfänglich dafür. „Man will sich selbst nichts gönnen“, weiß die dreißigjährige Patricia A. und charakterisiert sich selbst als Kontrollfreak.

Kleidung aus der Kinderabteilung

Heute ist sie stabil und wiegt 44 Kilo. Ihre Kleidung kauft sie weiterhin in der Kinderabteilung: Größe 158. Aber sie benutzt keine Waage mehr. Bei Lagaya hat sie gelernt, was Genuss ist.

Aber Violeta Hristova-Mintcheva warnt: „Jemand mit einer Essstörung ist genau wie jemand mit einer Alkoholsucht potenziell immer gefährdet.“ Um Alkohol kann man allerdings einen Bogen machen, mit Nahrungsmitteln und Essen sind die früheren Patientinnen immer konfrontiert.