Einige der 120 Sängerinnen und Sänger, die in fünf Kontinenten am virtuellen „Miss Saigon“-Konzert teilgenommen haben. Foto: Screenshot

Tränen sind geflossen, gelacht wurde, jeder war tief berührt: Aus fünf Kontinenten haben 110 Ensemblemitglieder von „Miss Saigon“ 25 Jahre nach der Stuttgarter Premiere im Netz gemeinsam gesungen – zum Starkmachen in der Coronazeit.

Stuttgart - Nach dem dreistündigen Zoom-Konzert im Netz, einem Fest der großen Gefühle, jubelt Melinda Chua, die in „Miss Saigon“ das Barmädchen Kim erst in Stuttgart und dann am Broadway gespielt hat: „Dies war das allerbeste, was Corona für mich getan hat!“ Momentan pausiert die Sängerin und Schauspielerin, die heute in Chicago lebt. Weltweit darf keine und keiner ihrer Kolleginnen und Kollegen auf die Bühne. Überall legt das Coronavirus den Alltag lahm, überall ist Angst und Sorge um die Zukunft. In der Quarantäne, ohne Chance öffentlich zu singen, kommen Erinnerungen an schöne Zeiten hoch.

„Miss Saigon“ wurde in Stuttgart von 1994 bis 1999 gespielt

Bei keiner anderen Produktion ist der Zusammenhalt so groß wie bei „Miss Saigon“, dem ersten Musical in Stuttgart, das 1994 Premiere feierte und hier bis 1999 gespielt worden ist. Bis heute gibt’s bei den weltweit verteilten Sängerinnen und Sängern sowie bei Technikern einen regen Austausch in der großen WhatsApp-Gruppe. Unvergessen ist das gemeinsame Singen in der Kantine des Möhringer Musicaltheaters, das spontan nach Aufführungen allen viel Spaß gemacht hat. „Ach, wär’ das schön, wir hätten heute in dieser verdammten Corona-Zeit wieder unser Kantine-Singen“, war in der Gruppe zu lesen. Für viele war dies damals pures Glück.

Jetzt hat die große „Miss Saigon“-Familie die digitalen Möglichkeiten nach wochenlanger Vorbereitung genutzt und sich zum Singen via Zoom im Netz verabredet, nicht in der Kantine, sondern jede und jeder bei sich daheim. Damit wollte man sich an der Freundschaftsbande hochziehen und sich gegenseitig Kraft geben, die schwierige Zeit zu überstehen.

„Kantine Konzert Goes Virtual“ – so lautete das Motto. Kein öffentliches Internet-Konzert war dieses virtuelle Miteinander. Man wollte unter sich bleiben. Dabei sein durften nur Mitglieder der „Miss Saigon“-WhatsApp-Gruppe sowie ausgewählte Gäste, darunter auch ein Journalist, der hier nun schreibt. Während es in Stuttgart um 17 Uhr losging mit der Begrüßung, war es aufgrund der verschiedenen Zeitzonen in Manila 23 Uhr, in der Eastern Time 11 Uhr und in der Pacific Standard Time 8 Uhr.

Zum Finale erklingt „Bye, Bye Miss American Pie“

In der Pandemie erleben die Videokonferenzen von Zoom einen Wahnsinnsboom. Wer sich damit auskennt, weiß, dass man virtuelle Hintergründe einblenden kann, um nicht zu viel Privates von sich preiszugeben. Viele der über 100 Künstler von „Miss Saigon“ aus 37 Städten und fünf Kontinenten wählten das Foto der Original-Kantine des Stuttgarter Apollo-Theaters als Background. Andere zeigten Wände ihres Wohnzimmers, ihrer Küche oder saßen im Garten. Manchmal sprang ein Kind ins Bild oder der Ehemann holte was aus dem Kühlschrank.

Aufgrund der verschiedenen Zeitzonen ist es ein Kunststück, in der Gruppe zu singen, weil es bei der Übertragung Verzögerungen von Sekunden gibt, die für Harmonien nicht förderlich sind. Beim virtuellen Kantine-Konzert haben sich die Teilnehmer deshalb abgewechselt. Einer singt und präsentiert den nächsten. Man hörte Highlights aus Pop, Soul, Musical und Oper – dargeboten von David Whitley bis Raymond Sepe, von der Stuttgarter Organisatorin Sumita Dutt bis zum herzergreifenden Finale von Shawn Kilpatrick mit „Miss American Pie“. Danach sah man eine Dia-Show mit Fotos von einst. Die Darbietungen gingen unter die Haut, es gab nur wenige technische Missgeschicke. Der Ton lässt sich nicht immer perfekt aussteuern – aber das war egal: In viele begeisterte Konferenzgesichter hat man gesehen. Immer wieder wurden Augen staunend aufgerissen oder Tränen aus diesen gerieben.

Unklar ist, wann „Miss Saigon“ in Wien starten kann

Sumita Dutt, eine von vier Organisatoren, bekam danach zahlreiche Dankesnachrichten der Teilnehmer etwa aus Neuseeland, Australien, Hawaii oder Malaysia. „Es geht allen gleich“, sagt sie, „alle fühlten Euphorie, Dankbarkeit, Wehmut – wir haben viel Liebe gespürt.“ Die Jahre rennen dahin – aber es gibt eine Konstante, die aufbaut: Aus dem Paradies der Erinnerungen kann keiner vertrieben werden. Freundschaften machen stark und geben dem Leben Sinn. Audri Dalio, die einst auch die Kim war und heute als Krankenschwester in New Jersey arbeitet, richtet einen eindringlichen Appell an alle: „Bleibt daheim!“ Wer Liebe und Zusammenhalt spürt, dem fällt dies leichter.

Ob das Musical „Miss Saigon“ im September sein Comeback in Wien feiern kann, ist aufgrund der Corona-Pandemie noch unklar. Viele hoffen, dass nach Österreich die rührend-sentimentale Show mit dem Hubschrauber, die von dramatischer Kriegszeit in Vietnam handelt, nach Stuttgart zurückkehrt. Die Mitglieder des Zoom-Konzertes wären bereit, sich dann mal wieder auf den Fildern live zu treffen. Ihre Herzen verlangen danach.