Sitta Krizso: Die Krankenschwester kam in den Westen, um ihren Traumberuf auszuüben – an die Mentalität musste sie sich gewöhnen Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

StN-Serie - Nach dem 9. November 1989 zog die Hoffnung auf neue Lebensentwürfe mehrere Tausend Menschen nach Stuttgart. Drei von ihnen erzählen, wie sie 25 Jahre später auf die DDR blicken - auf sehr unterschiedliche Weise.

Die Nostalgische

Sitta Krizso sagt, dass nicht alles schlecht war in der DDR. Zum Beispiel? Die Wochenkrippe, die Kinder von Montag bis Freitag aufnahm und Eltern entlastete. Oder die Briefe, die nach Hause kamen und daran erinnerten, dass die verpflichtende Impfung gegen Pocken ansteht. Und natürlich das Gemeinschaftsgefühl, sagt Krizso. Das hätten die meisten Nachbarn damals im großen Plattenbau bewiesen. Krizso lebte damals in Hoyerswerda, im sächsischen Landkreis Bautzen, in der Nähe von Dresden. „Wenn man mal ein paar Eier zum Frühstück brauchte, konnte man sofort nebenan nachfragen“, sagt die 42-Jährige.

Die massenhafte Überwachung durch die Stasi und Ausreiseverbote mache das natürlich nicht ungeschehen. „Aber es gab durchaus Dinge, die auch gut liefen“, sagt Krizso. Sie lebt seit dem Jahr 1990 in Böblingen. An diesem Nachmittag sitzt sie im Café Frech und rührt durch ihren Latte Macchiato. In der DDR wäre es der Muckefuck gewesen. Sie schiebt ein Papier über den Tisch: „Lehrvertrag“ steht in Druckbuchstaben darauf. Und weiter: „Lehre zu einem klassenbewussten und hochqualifizierten Facharbeiter, zur Maschinisten für Gasanlagen.“

Ein Job, den es in der Bundesrepublik in dieser Form nicht gab, sagt Krizso. Und ein Job, der durch und durch dem sozialistischen Ideal entsprach: Schließlich ging es dabei um die Herstellung von Gas, Briketts und Kohle und damit darum, die Gemeinschaft im Sinne aller mit Energie zu versorgen. Andererseits war dar Job auch wieder untypisch, zumindest für sie, die eine der wenigen Frauen in dem Männer dominierten Beruf war. „Und um meinen Traumberuf zu ergreifen, darauf musste ich noch bis nach dem Mauerfall warten“, sagt sie.

Szenen einer DDR-Kindheit: Sitte Krizso zieht ein Foto aus der Handtasche, das eine Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt. Eine Bühne ist darauf zu sehen, ein halbes Dutzend Kinder stehen auf ihr, Sitte, damals in der achten Klasse, im Rock ganz links. Das war im Jahr 1985. „Die Jugendweihe. Damit wurden wir festlich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen“, erinnert sie sich. „Meine Truppe“ steht über dem Foto. Und damit ist die ehemalige DDR-Bürgerin wieder beim Gemeinschaftsgefühl angekommen.

Am Tag, an dem die Mauer fiel, wurde Krizso klar, dass sie trotzdem in den Westen wollte. „Ich sagte meinen Eltern: Das ist meine Chance. Wenn ich es jetzt nicht versuche, dann werde ich nicht glücklich.“ Es gab eine Cousine in Stuttgart. Und es gab die Möglichkeit, in Böblingen mit der Krankenschwesterausbildung zu beginnen. Krizso biss sich bei den Eltern durch – und fing zum Oktober 1990 damit an.

Das neue Umfeld war eine ganz schöne Umstellung, sagt sie. Doch für ihren Traum, als Krankenschwester zu arbeiten, wagte sie den Schritt. Das Wohnheim in Böblingen wirkte zunächst kühl auf sie. „Wir waren sieben Mädchen auf dem Gang. Befremdlich war am Anfang, dass alle die Türen zugemacht haben und sehr für sich waren“, sagt Krizso. „So kannte ich das im Osten nicht.“

Dennoch bereut sie den Umzug nicht. Die 42-Jährige Krankenschwester ist heute stellvertretende Leiterin des Dialysezentrums in Böblingen.

Zu Besuch ist sie nach wie vor in Hoyerswerda. Und manchmal, da kann sie etwas wehmütig werden, wenn sie sieht, dass auf dem Grundstück des ehemaligen Konsum-Markts jetzt ein C&A steht.

Der Unbequeme

Philipp Hebenstreit öffnet die Stasi-Akte, die sein Familienleben in der DDR minutiös dokumentiert. Der 36 Jahre alte Wahl-Stuttgarter sitzt in der Küche seiner Wohnung im Westen der Stadt. Die Akten erzählen von seinem Vater, dem Leben in der ostthüringischen Gemeinde Krölpa und einer Familie, deren Lebenswandel den Vorstellungen des autoritätsgläubigen DDR-Bürger zuwiderlief. Eher Kommune I als Staatsratssitzung, so lässt sich das Leben der Familie zugespitzt zusammenfassen.

Hebenstreit schiebt die Akte über den Küchentisch. In ihr steht zum Beispiel: „Ihr Familienleben gestaltet die Familie sehr lose und offen, unabhängig voneinander. Man nennt dies in ihren Kreisen ,freie Liebe‘, denn jeder geht seinen Bedürfnissen und Idealen nach.“ Es sind Sätze, die Hebenstreit heute unfreiwillig komisch erscheinen und ihn zum Schmunzeln bringen.

Der 36-Jährige, Vater von einem Sohn, steht im T-Shirt am Herd und rührt im Kochtopf. Er arbeitet als Musikmanager. Gerade bereitet er aber das Mittagessen für seine kleine Familie vor. Der Raum füllt sich mit dem Duft von Tomatensoße und frisch geschnittenen Kräutern. Hinter ihm an der Wand hängt ein Plakat gegen Atomstrom. Auch ein Schild gegen Stuttgart 21.

Er ist Musiker, sein Vater war es, und sogar sein Urgroßvater: „Die Stasi wurde vor allem wegen brisanten Liedguts auf uns aufmerksam“, erinnert sich Hebenstreit. Sein Vater spielte leidenschaftlich Gitarre. Viele Freunde und Bekannte kamen auf den Bauernhof. Feierten die Feste, wie sie eben fielen.

Dass dies nicht überall gut ankam, erfährt der Leser der Stasi-Akten. Über den Vater von Hebenstreit notiert ein Inoffizieller Mitarbeiter: „Das Verhältnis zu den Schwiegereltern wird als gespannt eingeschätzt. Die Schwiegereltern haben für seine Lebensweise kein Verständnis und schätzen ihn als faul ein.“ Hebenstreit schmunzelt wieder.

Das Essen ist fertig. Pünktlich öffnet sich die Wohnungstür und Hebenstreits Freundin und Sohn Jonathan treten ein. Als Philipp Hebenstreit im Alter seines Sohnes war, freute er sich über West-Pakete von Tante Ilse aus Bielefeld, die ihnen Lego und Aero-Luftschokolade in den Osten schickte. „Wir hatten viele Kontakte in den Westen. Auch deshalb standen wir unter Beobachtung.“

Es waren Taxifahrer, Nachbarn und Dorfbewohner, die Informationen über die Familie sammelten. Einen Verdacht, dass sie beschattet wurden, gab es damals in der Familie nicht. Schon gar nicht als kleiner Junge, der Hebenstreit damals war und vieles mit großen Augen sah. Wie alle Kinder in seinem Alter war er Mitglied in der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“. Begeistert unterhielt er Brieffreundschaften mit anderen Schülern nach Russland. Der ehemalige KPD-Vorsitzende Thälmann, sagt Hebenstreit, galt unter den Kindern als cool. „Auf Bildern hatte er immer eine Schiebermütze auf und er hatte gegen Nazis gekämpft.“

Mit den Jahren verlor Hebenstreit diesen kindlichen Blick. Als die Mauer fiel, war er fast zwölf Jahre alt. Mit 16 Jahren, nach der Schule, zog es ihn zu einem Onkel nach München, um dort die Ausbildung zum Musikalienhändler zu machen. Im Anschluss ging es nach Stuttgart, wo er am Pop College arbeitete. Hier hat er als Musikmanager seine neue Heimat gefunden. In seiner Wohnung erinnert nichts an die DDR. Allein die Stasi-Akte, die er im Regal verstaut.

Die Zweiflerin

Wenn Brigitte Jähnigen zurück denkt an die DDR, dann muss sie immer auch an den Schriftsteller Stefan Heym denken. Dann ist sie plötzlich wieder in diesem Zwiespalt. Zwischen Hoffnung und Abscheu. Heyms Roman „Radek“, der die Geschichte des marxistischen Intellektuellen Karl Radek erzählt, steht bei Jähnigen im Bücherregal. „Ich erinnere mich noch gut an Heyms öffentliche Auftritte in Kirchen. Er wollte einen neuen Staat aufbauen“, sagt die freie Journalistin. Da schwingt noch etwas der Glaube an eine Idee mit, die später an der Realität scheiterte.

Jähnigen sitzt im Wohnzimmer ihrer Wohnung in Riedenberg, auf dem Tisch steht eine japanische Teekanne, in der Ecke ein breites Bambusrohr. Die Einrichtung ist so spartanisch, dass ihre Stimme leicht hallt, wenn sie ansetzt, um von der DDR zu erzählen.

Die freie Journalistin hat sich durch Akten der ehemaligen Gauck-Behörde gewühlt, um herauszufinden, wer sie wann beobachtete und was die Stasi von ihr wusste. Insgesamt 5500 DIN-A4-Seiten, mehr als 20 Ordner, habe die Stasi für die Familie angelegt. Bei der Akteneinsicht tauchte sie gedanklich wieder ein in die Welt vor 1989.

Das Mädchen wuchs auf in Görlitz, katholisches Elternhaus, tiefgläubige Mutter. Ihr Weg schien vorbestimmt: Studium der Kirchenmusik und Auftritte in der Kantorei in Görlitz. Unter kritischer Beobachtung stand sie schon durch ihre Nähe zur Kirche, die sich ihre Eigenständigkeit zum Staat größtenteils erhalten konnte. Das Singen in der Kantorei brachte ihr prompt das Misstrauen der Staatsoberen ein. „Die Universität wollte mich exmatrikulieren, weil ich dort mitgesungen habe.“

Die Spitzelbehörde warf Jähnigen ungesetzliche Verbindungsaufnahme in den Westen und die Herabwürdigung staatlicher Organe vor. Der Grund für das staatliche Misstrauen lag in ihrer Vergangenheit: Mit 16 Jahren, noch zu Görlitzer Zeiten, hatte Jähnigen eine Liaison mit einem Germanistik-Studenten aus Karlsruhe. Die „konspirativen Treffen“ ließen Jähnigen auf dem Radarschirm der Stasi-Mitarbeiter auftauchen.

Zum Ende des Studiums haderte Jähnigen damals bereits mit dem System, 1971 zog sie von Görlitz nach Ostberlin und die Zweifel wuchsen weiter. Im geteilten Berlin lernte sie ihren späteren Mann kennen. Sie bauten sich ein kleines Leben in Köpenick auf.

„Ich habe meinen Mann dann mit den unbequemen Fragen konfrontiert: Willst du, dass unsere Kinder in einem Staat leben, in dem Realität und Idee so weit auseinander gehen?“ Ab dem Jahr 1984 verwanzte die Stasi die komplette Wohnung der Familie, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Dennoch gelang es Jähnigen, gemeinsam mit ihrer Familie noch vor dem Mauerfall den sozialistischen Staat zu verlassen. Ihr zweiter Sohn litt unter Zerebralparese, war körperlich behindert. „Im Osten gab es einfach keine angemessene medizinische Versorgung für unseren Sohn.“ Die Mangelwirtschaft Ende der Achtziger Jahre beeinträchtigte auch Arztpraxen und Kliniken. Jähnigen besorgte sich fortan stapelweise medizinische Literatur über die Behinderung ihres Sohnes. „Wir haben die Behinderung schon als einen Grund angeführt, um unsere Chancen für die Ausreise zu erhöhen“, sagt Jähnigen. Die ersten Ausreiseanträge schrieb die Familie im Jahr 1983. Und tatsächlich bewilligte der Staat ein Jahr später die Ausreise: aus „humanitären Gründen“.