Deutschland ist das Land mit der weltweit größten Brotvielfalt. Rund 300 Sorten listet das Deutsche Bäckerhandwerk in seinem Brotregister auf. Foto: dpa

Die Deutschen sind „Brotfresser“. Das sagen die Franzosen über ihre Nachbarn. Tatsächlich gibt es in keinem Land so viele Brotsorten wie in Deutschland. Rund 300 Sorten zählt der Bäckerei-Verband. Der Mensch lebt aber nicht vom Brot allein. Deshalb hat das Brot auch einen kultisch-religiösen Sinn.

Stuttgart - Im Anfang der Zivilisationsgeschichte war das Korn, die reifen Ähren von Weizen, Einkorn, Emmer, Roggen, Dinkel und Gerste. Der Bauer säte das Getreide aus und konnte bei günstigen Bedingungen zweimal im Jahr ernten und seine Vorratskammern füllen. Getreidekörner, zu einem Brei vermengt oder zu Mehl gemahlen und dann zu Brot gebacken, bilden seit den ersten Hochkulturen die Hauptnahrungsquelle der Menschheit.

Kaum ein Erzeugnis menschlicher Arbeit hat eine solch tiefe symbolische Bedeutung wie das Brot. Es steht für das Leben an sich, ist Sinnbild für Nahrung und Speise, die den Hunger stillt, das Überleben sichert und dazu noch ein Genussmittel ist.

Brot-Kultur

Wer sich mit der Kulturgeschichte des Brotes beschäftigt, begibt sich auf eine Reise in die Frühzeit der Menschheit. Im Zuge der Neolithischen Revolution, die vor rund 10 000 Jahren begann, wurden aus umherstreifenden Jägern und Sammlern sesshafte Bauern. Der Mensch gab seine umherwandernde, mobile Lebensweise schrittweise auf und ließ sich nieder.

Damit einher ging eine zivilisatorische Evolution: Die ersten Städte entstanden mit hierarchisch aufgebauten Gesellschaften, Arbeitsteilung und Kulturgütern wie Keramik und Metallwerkzeugen aus Kupfer, Bronze und Eisen. Zugleich stiegen in einem rasanten Tempo die Produktivität, das Angebot an Nahrungsmitteln und die Bevölkerungszahl.

Nach Ansicht des Pflanzenökologen Hansjörg Küster vom Institut für Geobotanik an der Leibniz-Universität Hannover war es vor allem die Agrikultur, der Anbau von Nutzpflanzen und vor allem des Getreides, die dem Menschen den Weg in die Kulturepochen ebnete.

Vom Jäger zum Ackerbauern

Zu dieser Zeit lag die Entwicklung vom Frühmenschen zum modernen Menschen, dem Homo sapiens, schon lange zurück. Obwohl sie in der Evolutionsgeschichte zeitlich gesehen nur ein Wimpernschlag war, bedeutet dieser Schritt zur Sesshaftwerdung den eigentlichen Beginn der Zivilisation.

In dieser geschichtlichen Achsenzeit entstanden an verschiedenen Orten gleichzeitig und unabhängig voneinander Hochkulturen. Ihre Expansion beruhte in erster Linie auf dem Anbau spezifischer Kulturpflanzen: In Europa und Westasien waren dies vor allem Weizen, Gerste und Roggen, in Südostasien war es Reis, in Afrika Hirse. In Mittel- und Südamerika wurden Mais, Maniok und Kartoffeln kultiviert.

Nahrung und Heiligung

Parallel zum Ackerbau bildeten sich religiöse Deutungsmuster und komplexe Glaubenstraditionen heraus, in deren Mittelpunkt die kultische Verehrung des jeweiligen Hauptnahrungsmittels stand. So wurde beispielsweise in Ägypten und im keltisch geprägten Kulturraum Mitteleuropas das Brot zum Symbol für Leben in Fülle.

Die heutigen Zivilisationen, die sich über Jahrtausende herausbildeten, entspringen im Grunde genommen den ersten Kornkammern der Menschheit. Kultur konnte deshalb entstehen, weil die Ernährung durch den Anbau von ausreichend Getreide gesichert war. Zugespitzt formuliert: Zuerst war das Korn, erst dann kamen die Schrift und der Kult.

Brot und Religion

Brot in der Bibel

Wie in den meisten Ackerbaukulturen bildete das Brot auch in biblischen Zeiten das wichtigste Nahrungsmittel. Eine gute Getreideernte sicherte bei Sumerern, Ägyptern, Israeliten, Persern, Griechen und Römern das Überleben. Eine schlechte Ernte führte zu Hungersnot und massenhaftem Tod. Angesichts der Abhängigkeit von den Launen der Natur bildete sich eine religiös-kultische Verehrung des Brotes heraus, das in einem metaphorischen Sinn als Heilsgabe und Zeichen der Zuwendung Gottes oder der Götterwelt gedeutet wurde.

In der Bibel wird Brot als symbolische Nahrung verstanden, die nicht nur den Leib, sondern auch die Seele nährt und stärkt. „Ego sum panis vitae“(„Ich bin das Brot des Lebens“) sagt Jesus von sich im Neuen Testament (Johannesevangelium, Kapitel sechs, Vers 35). Christus, der Gesalbte, ist der Mittler zwischen Himmel und Erde, Schöpfer und Mensch, der inkarnierte Sohn Gottes, der als lebendiges Brot vom Himmel kommt. Seinen sakralen Höhepunkt hat diese Brot-Symbolik im christlichen Abendmahl, in dem das Brot den Leib des auferstandenen Christus, das heißt seine reale Gegenwart in der Welt und die Gemeinschaft mit ihm im Abendmahl darstellt.

Brot und Arbeit

Der kulturellen Deutung voraus ging freilich harte körperliche Arbeit. In der Frühphase des Ackerbaus wurden die geernteten Körner zerstoßen und mit Wasser zu einem Brei verarbeitet und roh gegessen. Die Ägypter waren die Ersten, die die Kunst des Brotbackens kultivierten und so für die zuverlässige Ernährung des Volkes sorgten.

Zwei Entdeckungen machten aus den harten Getreidekörnern eine schmackhafte und bekömmliche Nahrung: der Bau von Backöfen und die Wirkung von Hefe und Sauerteig als Triebmittel. Gesäuertes Brot war im Land am Nil schon vor rund 6000 Jahren bekannt. In Ägypten entstanden auch die ersten Großbäckereien der Geschichte. In der Antike trugen die Ägypter deswegen den Beinamen „Brotesser“. Die Entdeckung des Gärprozesses ermöglichte es ihnen, aus Teig Brot, wie wir es heute kennen zu backen – mit lockerer Krume und fester, dunkler Kruste.

Im Land der Brotesser

Deutschland – Brotland

Deutschland ist das Land mit der weltweit größten Brotvielfalt. Rund 300 Sorten listet das Deutsche Bäckerhandwerk in seinem Brotregister auf. Ungeachtet der riesigen Auswahl unterscheidet man zwei Grundarten von Brot: gesäuertes Brot, das mit Hilfe von Sauerteig oder Hefe hergestellt wird, sowie ungesäuertes Brot, das ohne Zusatz von Triebmitteln auskommt. Daneben gibt es vielerlei Unterschiede beim verwendeten Getreide, bei der Mehlart und den Zutaten. Der Fantasie der Bäcker sind kaum Grenzen gesetzt.

Einen enormen Schub erhielt die Brotproduktion in mittelalterlichen Europa. Mit der Professionalisierung der Handwerksberufe wurde der Bäcker zum wichtigsten aller Berufe. Der Anteil des Brotes an der Ernährung der Bevölkerung betrug zeitweise bis zu 75 Prozent des täglichen Kalorienverbrauchs. Dunkles Brot aus Roggen und Dinkel galt als Brot der Armen, während das nährstoffarme Weißbrot den Reichen vorbehalten war.

Brot und Backen

Das ganze Dasein drehte sich ums Brot und Backen. Kein Wunder, dass Brot zum sakralen Objekt stilisiert wurde. Dies hatte durchaus handfeste Gründe: Zum einen ist Brot sehr nahrhaft. Es enthält viele lebenswichtige Inhaltsstoffe wie Eisen, Kalzium, Magnesium, Ballaststoffe und Kohlehydrate. Zum anderen lässt es sich zuverlässig herstellen und lagern, um auch in Notzeiten auf die Vorräte zurückgreifen zu können.

Brot und Politik

Brot und Leben wurden so zu Synonymen: Das tägliche Brot war gleichbedeutend mit dem täglichen Überleben. Kein Brot zu haben bedeutete den sicheren Tod. „Unser täglich Brot gibt uns heute“, lautet die vierte und sicherlich dringlichste Bitte im christlichen „Vaterunser“-Gebet.

Brot war zu allen Zeiten ein politisches Machtinstrument, mit dem man die Massen kontrollieren konnte. Brotmangel war immer wieder Anlass zu Hungeraufständen, Auswanderungswellen und Geburtenrückgang. So führten Brotknappheit und gestiegene Brotpreise 1789 zum Ausbruch der Französischen Revolution. Die Teuerungen infolge von Missernten trafen vor allem die kleinen Leute in den Städten, für die Brot das Hauptnahrungsmittel war und die wegen leerer Mägen auf die Barrikaden gingen.

Brot als Massenprodukt

Bis vor einigen Jahrzehnten waren sich die Menschen hierzulande noch bewusst, dass Brot eine heilige Speise darstellt, die man mit Ehrfurcht und Dankbarkeit essen muss. „Wo man Brot ehrt, Gott die Not kehrt“, heißt ein Sprichwort. Viel von dieser Ehrfurcht ist nicht geblieben.

Hinzu kommt, dass immer mehr kleine Backstuben in Familienhand der zunehmenden Industrialisierung des Bäckerhandwerks zum Opfer fallen. 2010 wurden nur noch 36 Prozent der Brote in Bäckereien verkauft. Der Rest ging in Discountern, Backshops und Lebensmittelfilialen über die Ladentheke. Damit einher geht eine Vernichtung von Brot und anderen Lebensmitteln, die angesichts des Hungers in der Welt geradezu zynisch ist.

Verschwendung von Nahrung

Deutsche Bäckereien sortieren täglich zehn bis 20 Prozent ihres Warenangebots aus. Allein 500 000 Tonnen Brot landen pro Jahr im Müllcontainer. Statistisch gesehen entsorgt jeder Deutsche 94 Kilogramm Lebensmittel pro Jahr – umgerechnet fünf Scheiben Brot täglich. Weltweit sind es der Welternährungsorganisation FAO zufolge 1,3 Milliarden Tonnen. Gleichzeitig leiden rund 870 Millionen Menschen an Hunger. Fast neun Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Unterernährung.

Brot, das zu allen Zeiten als das Nahrungsmittel schlechthin galt und Kultstatus besaß, ist heute zum industriell hergestellten, jederzeit verfügbaren und preiswerten Massenprodukt geworden, das vielfach verschimmelt oder verfüttert wird. Ein deprimierender Abstieg von Krume und Kruste.