Ausrucksstarke Königin auf dem Eis: Die erst 15 Jahre alte Russin Alina Sagitowa. Foto: AP

Die 15 Jahre alte Russin Alina Sagitowa ist die zweitjüngste Olympiasiegerin im Damen-Einzel. Warum sie das schaffte? Weil sie im zweiten Anlauf gelernt hat, ihre Sportart 24 Stunden lang am Tag zu lieben.

Pyeongchang - Die Kuscheltierwertung hatte sie gewonnen. Nachdem Jewgenia Medwedewa ihre Kür beendet hatte, flogen in der Ice Arena bestimmt 30 Stofftierchen aufs Eis. Und auch der Applaus der 12 000 Menschen in der ausverkauften Halle war eine Spur intensiver als bei Alina Sagitowa, die 15 Minuten zuvor ihre Kür präsentiert hatte. Doch als die Punkte der Wertungsrichter am Displaywürfel erscheinen, da ist klar, dass es nicht gereicht hat. Knapp nicht gereicht hat. 1,31 Punkte fehlen der 18 Jahre alten Russin auf Sagitowa – die zweimalige Weltmeisterin schluchzt auf, dann fällt sie ihrer Trainerin in der Tränenecke um den Hals. Eteri Tutberidse sagt ein paar Worte, nimmt die Entscheidung ziemlich regungslos zur Kenntnis. Ihr kann es egal sein, sie trainiert sowohl Alina Sagitowa als auch Jewgenia Medwedewa. Sie hat auf jeden Fall gewonnen.

Alina Sagitowa, die erst 15 Jahre alte Europameisterin, kommt auf insgesamt 239,57 Punkte und ist die zweitjüngste Olympiasiegerin im Damen-Einzel. Sie hatte sich im Kurzproramm mit der Weltrekord-Wertung von 81,61 Punkten einen derart komfortablen Vorsprung herausgesprungen, diese Lücke konnte ihre Landsfrau trotz der besseren, ausdrucksvolleren Kür nicht schließen. Als die Entscheidung steht, hat es fast den Anschein, als wäre es das dritte Olympia-Gold für den Teenager, so emotionslos absorbiert er das Ergebnis auf der Couch im Warteraum. „Ich war in diesem Augenblick leer“, sagt sie später, „mir ist so vieles durch den Kopf geschossen, das kann ich nicht beschreiben.“

Schwierige Fragen der Reporter

Es ist nicht leicht, mit 15 Jahren einen Olympiasieg zugeteilt zu bekommen, und danach schwierigen Fragen der Reporter gegenüber zu stehen. Etwa die, was sie fühlen werde, wenn im Olympic Park in Pyeongchang die Medaillenzeremonie stattfindet; wenn dabei wegen des IOC-Beschlusses aufgrund des russischen Staatsdopings nicht die russische, sondern die olympische Flagge gehisst und auch diese internationale Hymne gespielt werde. „Das möchte ich nicht beantworten“, sagt Alina Sagitowa. Zu riskant, als frischgebackene Olympiasiegerin gleich irgendwo in Ungnade zu fallen. Entweder in Russland oder im Rest der Welt.

Fachfragen sind ihr lieber. Da kann sie erzählen, dass sie diesen Sport liebt, ja man ihn lieben müsse, um erfolgreich zu sein. Dass sie hart trainiere, mit viel Leidenschaft, sonst erreiche man nie das Maximum. „Ich will immer besser werden“, betont die 15-Jährige, die ihre schwierigsten Sprünge in der Kür in die zweite Hälfte des Programms gelegt hat, weil man damit die Juroren beeindrucken kann.

„Meine Trainerin hat das entschieden“, erklärt das Mädchen, „am Anfang war ich skeptisch, aber als ich das das erste Mal fehlerfrei hinbekommen habe, wusste ich: Ich kann es.“ Die Nachfrage wie viele Wochen bis dahin vergangen waren, stellt niemand.

Was die Trainerin sagt, ist Gesetz

Die Trainerin hat es so gewollt, und was Eteri Tutberidse sagt, ist Gesetz. Über ihr, so beschleicht einen das Gefühl, steht in der Eishalle in Moskau nur noch Gott. 2014 fuhr das Talentchen mit elf Jahren im Trainingszentrum ein, ihre Großmutter zog mit ihr in die Hauptstadt aus der Provinzmetropole Ischewsk, gut 1200 Kilometer in Richtung Ural entfernt. Doch die Trennung von daheim, die schmerzte so, dass sie in den Etüden im Ballettsaal und bei den Einheiten auf der Eisfläche zu viele Schwächen darbot. Eteri Tutberidse, die von sich selbst behauptet, „von mir gibt es kein Mitleid“, schickte das Mädchen dahin, wo der Pfeffer wächst. Zurück nach Udmurtien. Doch die Eltern drängten auf ein Gespräch, die 43 Jahre alte Startrainerin gewährte eine der extrem seltenen zweiten Chancen. „Ich hatte nicht hart genug gearbeitet“, erzählt Alina Sagitowa, „ich hatte die Ernsthaftigkeit nicht verstanden.“ Sie hatte die Lektion gelernt. Von nun an, das war ihr klar, wird sie Eiskunstlauf lieben. Und zwar 24 Stunden lang.

Auch Jewgenia Medwedewa liebt ihren Sport. Aber sie hat mittlerweile erfahren, dass es eine Welt da draußen gibt, außerhalb der Glaskugel Eiskunstlauf. Die Silbermedaillengewinnerin ist drei Jahre älter, drei Jahre reifer, drei Jahre klüger. Sie geht in die Offensive. „Das ist eine gute Frage, die ich gerne beantworte“, sagt sie und meint die Flagge bei der Medaillenvergabe, „ich finde, heute haben wir Athleten aus Russland bewiesen, wie gut wir sind.“ Diplomatisch, nicht angreifbar. Die 18-Jährige will damit betonen, russische Sportler könnten ohne Doping in der Weltspitze mitmischen; Medwedewa ist unbelastet vom Staatsdoping, 2014 war sie in Sotschi nicht am Start.

Jewgenia Medwedewa wird wieder aufstehen

„Das Leben hält immer eine Lektion bereit“, sagt die junge Frau aus Moskau. Sie wird sich ihr stellen. Silber, die Niederlage schmerzt. Sie war mehr als zwei Jahre ungeschlagen, dann kam Sagitowa im Herbst 2017, jetzt hat sie ihr die Goldmedaille bei Olympischen Spielen genommen. Jewgenia Medwedewa wird wieder aufstehen, wie nach einem Sturz auf dem Eis. Das hat sie schon unzählige Male gemacht, denn sie liebt diesen Sport.

Als ein Reporter wissen will, was Eteri Tutberidse ihr zugeflüstert habe, als feststand, dass sie die Silbermedaille bekommen würde, da machte Jewgenia Medwedewa ein sehr ernstes Gesicht: „Was mir die Trainerin sagt, werde ich niemals öffentlich sagen.“ Das ist besser so.

Was Eteri Tutberidse sagt, ist Gesetz.