Sicherheitsabstand statt Gedränge: Der Demonstrationszug auf dem Weg in die Waiblinger Innenstadt. Foto: Gottfried Stoppel

Überall im Land fallen die traditionellen Demonstrationen zum 1. Mai den Corona-Verordnungen zum Opfer. Überall? Nein. Einige linke Gewerkschafter aus dem Rems-Murr-Kreis haben zur Kundgebung in Waiblingen eingeladen.

Waiblingen - Gespenstische Stille herrscht auf dem Waiblinger Marktplatz. Alle Geschäfte haben für den Feiertag geschlossen, ein paar Kinder spielen an den „Taubenhäusler“-Skulpturen, ansonsten ist fast niemand zu sehen. Auf einmal tut sich etwas: Ein Sprechchor kommt immer näher. „Was macht den Faschisten Dampf? Klassenkampf!“ skandiert der vermummte Pulk, der durch die Innenstadt zieht. Rote Fahnen wehen; manche mit Hammer und Sichel, manche ohne. Hannes-Wader-Musik klingt aus einer Lautsprecherbox auf einem Bollerwagen.

Leiden Arbeitnehmer besonders stark unter der Corona-Krise?

Fast überall sind die traditionellen Gewerkschafter-Kundgebungen am Tag der Arbeit den Verordnungen zum Schutz vor dem Coronavirus zum Opfer gefallen. Überall? Nein, unbeugsame linke Gewerkschafter aus dem Rems-Murr-Kreis lassen sich das Protestieren nicht nehmen. Sie hatten zu einem „politischen 1.-Mai-Spaziergang“ vom Stihl-Werk in die Altstadt eingeladen.

Die große Befürchtung der Redner und Demonstranten: Die gegenwärtige Coronakrise könnte von Arbeitgebern und Regierenden ausgenutzt werden, ihre Interessen zum Nachteil der Arbeitnehmer und kleinen Leute durchzusetzen. „Coronakrise – nicht auf unserem Rücken“, steht auf einem der Banner. Dieter Keller, DGB-Vorsitzender in Fellbach und einer der Organisatoren der Demonstration, ergreift das Wort: „An diesem Tag nur virtuell präsent zu sein und nicht auf der Straße – da blutet mir das Herz“, sagt er. Die beiden Grundrechte auf Versammlungsfreiheit und auf körperliche Unversehrtheit dürften dieser Tage nicht gegeneinander ausgespielt werden. Er befürchte, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich durch die Corona-Krise noch weiter vergrößern werde.

Teilnehmer halten sich an die Vorgaben zum Infektionsschutz

„Eine Krise ist immer die Chance auf Verbesserung – sie birgt aber auch die Gefahr einer Verschlechterung“, warnt der Linkenpolitiker Reinhard Neudorfer. „Alle reden von der Rückkehr zur Normalität – aber ich will gar nicht zurück zu den bisherigen Zuständen.“ Er fordert einen „radikalen sozial-ökologischen Wandel“ und erntet dafür Beifall.

Aber trotz aller kämpferischer Töne: Die Teilnehmer von Spaziergang und Kundgebung halten sich brav an die Vorgaben zum Infektionsschutz. Immerhin stehen sechs Polizeiautos rund um den Marktplatz, die die Demonstration begleiten und dies im Auge haben. Ein junger Beamter mit Mundschutz nickt zufrieden: Bislang, sagt er, hätten die Teilnehmer alle Auflagen eingehalten.

Ein rotes Tuch vor dem Mund – Schutz mit Symbolcharakter

Sorgsam verteilen sich die etwa 70 Demonstranten auf dem Marktplatz – Raum ist dort genug. Und maskiert sind auch alle, einige sogar zusätzlich mit Sonnenbrille. Mit roten Tüchern vor dem Mund klassenkämpft es sich gar nicht schlecht. Vielleicht deshalb behält eine Rednerin, die namentlich nicht genannt werden will, das Tuch sogar während ihrer Ansprache auf.

Nach kurzer Zeit ist die Kundgebung vorbei, von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Die Teilnehmer ziehen gen Gewerkschaftshaus in der Fronackerstraße. Dort wartet ein letzter Programmpunkt: Ein „Solidaritätsfoto“, das sie an Kollegen schicken wollen, die sich derzeit im Streik befinden. Außergewöhnliche Zeiten erfordern eben außergewöhnliche Maßnahmen – auch beim Arbeits- und Klassenkampf.