Die Hitlerjugend marschiert durch Kayh. Widerstand Foto: Stadtarchiv

Der Historiker Marcel vom Lehn beendet seine Arbeit an einem Buch über die Zeit der Herrschaft Hitlers. Für manche alteingesessene Familien dürfte das Werk zur bedrückenden Lektüre zählen.

Herrenberg - Der Widerstand war rasch gebrochen – mangels Widerständlern. Weder den Bürgern Herrenbergs, noch der evangelischen Kirche oder der Lokalzeitung Gäubote war am Erhalt der Demokratie gelegen. Nahezu die gesamte Stadt streifte sie 1933 ab, als wäre sie ein fadenscheinig gewordener Gehrock. Mit Freuden schlüpften die Herrenberger stattdessen in die braunen Hemden der NSDAP. Das Denunziantentum erblühte. Widerspruch war kaum zu hören.

Dies ist die oberste Erkenntnis des Historikers Marcel vom Lehn, der zwei Jahre lang die NS-Vergangenheit Herrenbergs ergründet hat, im Auftrag der Stadt. Seine Arbeit soll in einem Buch dokumentiert werden, 253 Seiten umfasst es einschließlich der Quellenangaben. Die Veröffentlichung ist zum Jahresende geplant. Für manche alteingesessene Familien dürfte das Werk zur bedrückenden Lektüre zählen. In Herrenberg scheiterte auch die Entnazifizierung. „Fast alle früheren Nationalsozialisten wurden rehabilitiert. Ehemalige NS-Gegner fanden in Herrenberg kaum Berücksichtigung.“ Mit diesen Sätzen endet vom Lehns Zusammenfassung.

Die SPD will die Hindenburgstraße umbenennen

Als die Beendigung der Forschungsarbeit offiziell zur Kenntnis genommen wurde, meldeten sich im Gemeinderat nur Wenige zu Wort. „Es ist verheerend, wenn man aus heutiger Sicht ein Schlussstrichdebatte führt“, sagte der Sozialdemokrat Bodo Philipsen . Die SPD halte „auch für unerträglich dass die Hindenburgstraße noch immer Hindenburgstraße heißt“. Der Christdemokrat Hermann Horrer empfahl insgesamt eine bedächtigere Wortwahl. „Der Historiker ist nicht vorwurfsvoll geworden“, sagte Horrer. „So hat er mehr Betroffenheit erzeugt.“

Paul von Hindenburg hatte 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Ob Straßen noch nach dem ehemaligen Reichspräsidenten benannt sein dürfen, wird in der gesamten Bundesrepublik diskutiert. Die Entscheidungen fallen von Stadt zu Stadt unterschiedlich aus. In Stuttgart war nach Anträgen und einer Debatte im Gemeinderat der Schriftzug Hindenburg-Bau vom Komplex gegenüber dem Hauptbahnhof entfernt worden.

In Herrenberg lebten 1933 rund 3400 Menschen. Die meisten von ihnen musste die Nazi-Diktatur nicht gleichschalten. Sie schalteten sich freiwillig gleich, auch wenn vom Lehn schreibt, dass politisch „viele Menschen in einer Grauzone“ standen. NS-Gegner erwähnt der Historiker nur wenige, denn es gab kaum welche. Zu ihnen zählte der damalige Bürgermeister Reinhold Schick. Der habe sich nach der Machtübernahme allerdings dem System gefügt. Um im Amt zu bleiben, trat er 1933 der NSDAP bei. Ein Jahr später trat er zurück, nachdem er denunziert worden war.

Zwei Pfarrer zählten zu den wenigen Widerständlern

Den damaligen Kuppinger Pfarrer Erhard Eisenmann ernennt vom Lehn zum „seltenen Beispiel für Opposition“. Eisenmann hatte einem jüdischen Ehepaar auf der Flucht Unterschlupf gewährt. Aufrecht predigte auch der Herrenberger Stadtpfarrer Rudolf Richter von seiner Kanzel gegen Diktatur und Rassismus.

Ansonsten wurde Hitlers Weltbild willig und zügig durchgesetzt. Acht Herrenberger wurden wegen ihrer politischen Überzeugung ins KZ Heuberg gebracht. Die später eingemeindeten Dörfer eingerechnet, sind für das heutige Stadtgebiet 44 Zwangssterilisationen dokumentiert. Die Opfer waren zu „Erbkranken“ erklärt worden. 14 Menschen wurden ermordet, weil sie unter den Euthanasie-Erlass fielen. Die Täter „waren überwiegend Herrenberger, die ihren Handlungsspielraum anders hätten nutzen können“, schreibt vom Lehn. Vor allem gegen Kriegsende wurden Zwangsarbeiter in der Firma Walter Knoll misshandelt, wo sie Flugzeugteile herzustellen hatten. Der Betrieb war zur Rüstungsproduktion zwangsverpflichtet worden.

Noch im April 1945, wenige Tage vor Hitlers Selbstmord, bewiesen Herrenberger blutige Treue zu ihrem Führer. Während deutsche Soldaten scharenweise desertierten und Großstädte reihenweise kapitulierten, tobten um die Dörfer Kuppingen, Oberjesingen und Affstätt tagelange Kämpfe. Um Herrenberg gegen die Alliierten zu halten, wurden auch Frauen zum Militärdienst befohlen. „Die Stadt wurde blutig und sinnlos verteidigt“, schreibt vom Lehn. Die siegreichen Soldaten wähnten angesichts des Widerstands ein Recht auf Rache auf ihrer Seite, wie der Historiker ebenfalls dokumentiert: „In den Tagen nach der Eroberung kam es auch zu Verbrechen der alliierten Kampftruppen gegen die Zivilbevölkerung.“