Der französische Soziologe Didier Eribon erzählt aus der Provinz. Foto: Patrice Normand/Opale/Leemage

Im Jahr des AfD-Wahlerfolges setzt das Stuttgarter Literaturhaus ein Ausrufezeichen. Beim Festival „Herkunftssache“ vom 13. bis zum 15. Oktober geht es um Heimat, um Prägungen und um Länderwechsel.

Stuttgart - Der Mann der Stunde kommt nach Stuttgart: Didier Eribon machte in den letzten Tagen vor allem wegen der scharfen Kritik an Präsident Emmanuel Macron von sich reden, die er im Rahmen der Frankfurter Buchmesse äußerte. Am Freitagabend liest der französische Soziologe und Autor im Literaturhaus aus seinem mittlerweile zum Weltbestseller avancierten Buch „Rückkehr nach Reims“. Darin widmet sich Eribon der prekären Situation in der französischen Provinz, zeichnet damit aber gleichzeitig ein ebenso akkurates wie schmerzliches Bild europäischer Gegenwart. Seine Reise, die mit dem Tod des Vaters beginnt, ist eine Mischung aus Erzählung und Studie, vor allem jedoch eine schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft.

Herkunft ist ein vielschichtiges Wort. Es kann den Ort bezeichnen, von dem wir stammen. Oder das Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind. Oder Ereignisse und Begegnungen, die uns geprägt haben. Es kann aber auch die Schublade meinen, in die man uns einsortiert. Die Grenze zwischen dem Ich und dem Wir, dem Wir und den anderen. Das Literaturfestival „Herkunftssache!“ bringt vom 13. bis zum 15. Oktober die verschiedensten Autoren und Künstler unter dem Dach des Stuttgarter Literaturhauses zusammen, um dieser Vielschichtigkeit Rechnung zu tragen.

Herkunft kann zum Davonlaufen sein

„Wir haben beobachtet, dass soziale und kulturelle Herkunft oft getrennt voneinander diskutiert werden“, erklärt Stefanie Stegmann, die Leiterin des Literaturhauses. „Dabei müssen diese beiden Perspektiven unbedingt zusammen gedacht werden. Kunst kann Räume der Mehrdeutigkeit öffnen, statt mit Zahlen, Erklärungen und vorschnellen Lösungen die Tür zuzuschlagen.“ Im Jahr des viele erschreckenden AfD-Wahlerfolgs setzt das Stuttgarter Literaturhaus mit seiner Themenwahl ein markantes Ausrufezeichen.

Manchmal ist Herkunft zum Davonlaufen. Fatma Aydemir erzählt in ihrem Debüt „Ellbogen“ von einer jungen Frau mit türkischen Wurzeln, die vor der Berliner Polizei ins Land ihrer Eltern flieht. In den Straßen Istanbuls sucht sie Schutz, vor allem aber sich selbst. Die Protagonistin aus „Eine Liebe im Kaukasus“, dem Roman ihrer Kollegin Alissa Ganijewa, möchte sich dagegen nicht vertreiben lassen. Mit kritischen Fragen und jeder Menge Durchhaltevermögen schickt sie sich an, ihre traditionsbewusste Heimat ordentlich umzukrempeln. Wie starr das Konzept Herkunft sein kann und wie sich dessen Grenzen trotzdem überwinden lassen, versuchen die beiden Autorinnen im Gespräch miteinander zu klären.

Ausgrenzung und Spaltung

Dass Ausgrenzung letztendlich zur Spaltung der Gesellschaft führt, machen zwei andere Programmpunkte visuell erfahrbar. In „La Grieta – Der Riss“, einer Mischung aus Bildband und Comicband, berichten Fotograf Carlos Spottorno und Journalist Guillermo Abril von ihrer Reise zu den Außengrenzen der Europäischen Union. Gesucht haben sie nach Gründen für die Identitätskrise der EU, gefunden haben sie jede Menge Militär und Menschen auf der Flucht. Das Literaturhaus zeigt ihre mit dem World Press Photo Award ausgezeichneten Bilder und Texte bis zum 13. Dezember in einer Ausstellung.

Unter dem Motto „Auf Augenhöhe in Halbhöhe“ widmen sich diverse Autoren einer stillen Form gesellschaftlicher Spaltung, die sich nicht an den Rändern Europas, sondern im Herzen Stuttgarts bemerkbar macht. Je höher ein Haus über dem Kessel thront, desto leerer bleibt das Klingelschild, desto weniger sind die Bewohner bereit, ihre Identität preiszugeben. Mit Fantasiebiografien, Gedichten und anderen Textminiaturen wollen die Autoren diese Informationslücken kreativ füllen.

Neues von deutschen Krokodilen

Die Liste interessanter Veranstaltungen reißt damit noch längst nicht ab. Die Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji präsentiert ihren heiß ersehnten neuen Roman „Schildkrötensoldat“, der ZEIT-Literaturchef Iljoma Mangold erzählt gar von deutschen Krokodilen, und der Eribon-Schüler Édouard Louis konfrontiert uns in seinem autobiographischen Roman „Im Herzen der Gewalt“ mit Brutalität hinter der Fassade des Alltäglichen. Wer durch das Programmheft blättert, entdeckt noch einige weitere Argumente dafür, im Oktober das Stuttgarter Literaturhaus, statt die gleichzeitig stattfindende Frankfurter Buchmesse zu besuchen.

Stefanie Stegmann versteht „Herkunftssache!“ als Beitrag zur Entschleunigung erhitzter Debatten, als leise Anregung zum Nachdenken in Zeiten des Drauflosbrüllens. „Wenn die Besucherinnen und Besucher nach drei Tagen Festival mehr Fragen als Antworten mit nach Hause nehmen würden, wäre das schön.“