Auf einem von The Ocean Race 2023 zur Verfügung gestellten Videobild nähert sich ein Orca an einem Ruder der Hochsee-Segelyacht des Teams JAJO, das am Ocean Race 2023 teilnimmt, während sich das Boot der Straße von Gibraltar nähert. Foto: The Ocean Race/AP/dpa

Wieder zittern Segler, wieder stehen Forscher vor einem Rätsel: Vor der Küste Marokkos in der Straße von Gibraltar haben Orcas eine Segeljacht attackiert und zerstört. Was steckt dahinter? Eine Wal-Dame steht im Verdacht, die „Anstifterin“ zu sein.

Orcas (Orcinus orca) haben spanischen Medienberichten zufolge erneut eine Segeljacht in der Nähe von Gibraltar versenkt. Die zwei Besatzungsmitglieder der 15 Meter-Jacht „Alborán Cognac“ hätten am Sonntagmorgen (12. Mai) etwa 26 Kilometer vor Kap Spartel in Marokko am südlichen Eingang zur Straße von Gibraltar zunächst dumpfe Schläge gegen den Rumpf wahrgenommen, berichteten die spanische Zeitung „El País“, das „Portal 20Minutos“ und andere Medien am Montag (13. Mai) unter Berufung auf den spanischen Seenotrettungsdienst.

Tankerbesatzung rettet Schiffbrüchige vor Orcas

Bei dem Angriff der Schwertwale sei das Ruderblatt beschädigt worden, hieß es weiter. Als dann Wasser in das Boot eingedrungen sei, hätten die Segler einen Notruf abgesetzt. Von Spanien aus sei ein Hubschrauber gestartet und der in der Nähe fahrende Tanker „MT Lascaux“ gebeten worden, dem Havaristen zu Hilfe zu kommen, schrieb „El Pais“ weiter unter Berufung auf das Verkehrsministerium in Madrid.

Eine Stunde nach dem Notruf seien die Schiffbrüchigen von dem Tanker wohlbehalten an Bord genommen worden. Die Jacht habe man jedoch nicht bergen können, sie sei kurz darauf gesunken. Es war bereits der siebte derartige Vorfall seit 2020.

Ein Orca nähert sich 2023 dem Boot von Team Jajo beim Ocean Race vor Gibraltar. Foto: Foto: Brend Schuil/Team Jajo/The Ocean Race/dpa

37 Orcas in der Gruppe der Angreifer

Experten, die das Verhalten der intelligenten Tiere studieren, gehen davon aus, dass Orcas die Jacht gerammt hätten, die zu einer Gruppe von 37 der Meeressäuger gehören, die zwischen dem Norden der Iberischen Halbinsel und der Straße von Gibraltar im Süden leben, wie die Zeitung weiter berichtet.

Warum die Orcas es immer wieder auf die Boote abgesehen haben, ist nicht bekannt. Obwohl stets von „Attacken“ die Rede ist, sprechen Forscher lieber von „Interaktionen“, da der Grund für dieses nur in diesem Seegebiet beobachtete Verhalten der Schwertwale nicht bekannt sei. So sei es möglich, dass die Tiere nur spielen wollten. Es könne sich aber auch um die Reaktion auf ein negatives Erlebnis mit einem Schiff handeln.

Auf diesem von der Organisation GT Atlantic Orca undatierten zur Verfügung gestellten Bild ist ein Orca nahe einem Boot zu sehen. Foto: GTOA/dpa

Bis vor wenigen Jahren waren Orca-Attacken unbekannt

Gewalttätige Begegnungen mit den bis zu zehn Meter langen und oft über fünf Tonnen schweren Orcas waren bis wenigen Jahren noch weitgehend unbekannt. Zwar greifen Orcas auch andere Meeresgiganten an: Neben Thunfischen, Heringen, Pinguinen, Robben und Seevögeln verspeisen sie auch Delfine, andere Wale und Haie. Auf Boote hatten sie es aber bisher nicht abgesehen.

Erste Zwischenfälle über Orca-Attacken vor allem vor den Küsten Spaniens und Portugals meldeten Schiffsbesatzungen im Frühjahr 2020. Die unangenehmen Begegnungen wurden von Crews oft auf Video festgehalten. Man hört dann Schreie der überraschten Seeleute: „Boah, was für ein Riesenvieh!“ und „Er hat uns erwischt!“.


Neugierige Schwertwale?

Nach Aufzeichnungen der Organisation GT Orca Atlántica (GTOA) ereignen sie sich vor allem an der Straße von Gibraltar. Dort hatte sich am 11. Juli 2023 auch der erste Angriff auf einen Teilnehmer der Mallorca-Regatta ereignet. Das Boot „Corsario“ wurde dabei erheblich beschädigt. Neun Tage später wurde das Segelboot „Kapote III“ Opfer eines solchen Zwischenfalls mit Schwertwalen.

Doch warum agieren viele Orcas plötzlich so? GTOA-Meeresbiologe Alfredo López vertritt zwei Thesen. Die erste: Die Schwertwale aus der Familie der Delfine könnten vielleicht einfach „etwas Neues“ erfunden haben. Sie seien hochintelligente, neugierige und sehr soziale Wesen, die von ihren Artgenossen lernten. Bereits früher habe man beobachtet, dass einzelne Orca-Gruppen eigenwillige Gewohnheiten entwickelt hätten.

„Aber es könnte sich auch um eine Antwort auf ein negatives Erlebnis handeln“, meint López. „Das heißt, ein oder mehrere Tiere haben vielleicht eine schlechte Erfahrung gemacht und versuchen, die Boote zu stoppen, damit sich das nicht wiederholt.“

Ein Orca (Schwertwal) im Meer vor Lanzarote. Foto: SECAC/Monica Perez/epa efe/dpa

Steckt Orca-Dame Gladis Blanca hinter den koordinierten Attacken?

Der Experte hat eine Orca-Mama im Verdacht, die Attacken initiiert zu haben. Die Wal-Dame hat auch einen Namen: Gladis Blanca, Weiße Gladis.

Sie oder eines ihrer Jungen könnten sich etwa in einem Fischnetz verfangen haben oder von einem Boot angefahren worden sein. Für eine Reaktion auf eine negative Erfahrung spreche unter anderem, dass Gladis Blanca 2021 sogar mit ihrer neugeborenen Tochter Boote angefallen habe. „Die Motivation, die sie zur Interaktion antreibt, ist offenbar größer als der mütterliche Schutzinstinkt“, erklärt López.

„Es ist klar, dass es sich um Spiele handelt“

Im Gegensatz dazu glaubt Renaud de Stephanis, dass die Orcas nur Spaß haben wollen. „Es ist klar, dass es sich um Spiele handelt“, meint der Präsident der Umweltschutzorganisation Circe zu RTVE.

Jüngere Tiere hätten mit diesem Verhalten begonnen, und nun seien auch zwei Mütter aktiv, versichert er. Es sei zu erwarten, dass die Zwischenfälle aufhörten, sobald die Orcas dieses Spiel satt hätten.

Sind Aktivitäten des Menschen Grund für das Verhalten?

Einige Meeresbiologen räumen unumwunden ein, man habe „keinen blassen Schimmer“. Einig sind sich Fachleute jedoch darin, dass man die Orcas „nicht kriminalisieren“ dürfe.

„Es gibt Schlagzeilen in der Presse, die die Realität verwischen“, klagt López. Er meint Überschriften wie „Aufstand der Orcas“ oder „Rache der Mörderwale“. „All dies muss uns vielmehr dazu bringen, darüber nachzudenken, dass Aktivitäten des Menschen der Grund für dieses Verhalten sein könnten“, gibt López zu bedenken.

Auffällig ist: Während Orcas in Ozeanen weltweit leben, erfolgten die dokumentierten Angriffe in dem relativ kleinen Gebiet südlich und westlich der Iberischen Halbinsel. Beteiligt waren Schätzungen zufolge bislang insgesamt 35 bis maximal 60 Tiere.